Wolf rückt dem Menschen näher
VON BERNHARD KNAPSTEIN
Heidekreis. Das Rodewalder Rudel hat sich auf Großtierrisse spezialisiert, wie vor rund zwei Jahren das Cuxhavener Rudel. Im Bereich Nienburg haben die Wölfe auf einer Weide eine Herde von zehn Pferden angegriffen. Sie trieben die Tiere auseinander, töteten das erste auf der Weide, das zweite auf der Flucht.
Neu ist das nicht: Am 8. Mai 2018 hatte ein Jäger bei Seilsingen, Kreis Rotenburg, erstmals in Deutschland eine erfolglos gebliebene Jagd zweier Wölfe auf eine Pferdeherde beobachtet (BZ vom 19. Mai 2018). Zudem hatte schon das Celler Landgestüt und auch der Verein Naturschutzpark (VNP) unter seinen Dülmer Wildpferden Risse zu verzeichnen.
Pferde in Herdenhaltung galten bisher als zu wehrhaft für Wölfe, obwohl der deutsch-kanadische Zoologe Professor Dr. Valerius Geist ein Eskalationsmodell skizziert hat, in dem auch der Angriff auf Großtiere und in letzter Stufe auch Angriffe auf Menschen möglich sind (siehe Infobox). In den vergangenen Jahren hat die BZ umfangreich über die vom Wolf ausgehende steigende Gefahr berichtet. Zurzeit bewegen sich das Rodewalder und das Schneverdinger Rudel nach Geist etwa auf Stufe 5, in Schneverdingen kommt auch Stufe 6 in Betracht.
Die Caniden gelten als extrem lernfähig. Auch ihre Scheu vor dem Menschen können sie ablegen. Das hat vor wenigen Tagen VNP-Schäfer Mathias Koch aufgezeichnet. Der Schäfer befand sich mit seiner Herde in der Heide, als ein Wolf die Herde angriff. Das Video zeigt, wie Koch mit lauten Schreien und dem Werfen von Steinen und Stöcken seine Herde zu schützen versucht. Einen Teilausschnitt des Videos zeigt die BZ auf ihrer Facebookseite.
Schäfer Koch hatte sich 30 Minuten lang gegen den Wolf, der von seiner Beute nicht ablassen wollte, wehren müssen. Koch konnte seinen Chef, VNP-Geschäftsführer Matthias Zimmermann, alarmieren. Als der mit dem Auto zur Herde stieß, ließ der Wolf von Herde und Schäfer ab. „Ich habe unseren Schäfer in seiner ganzen emotionalen Bindung zu den Tieren hautnah erlebt“, zeigt sich Zimmermann im Gespräch mit der BZ noch immer beeindruckt von dem Erlebten.
Der Tisch ist für den Wolf reich gedeckt
Die Gefahr für die Schnuckenherden dürfe man nicht unterschätzen. „Die Heide ist ein Riesengebiet von 25 000 Fußballfeldern, da kommt nicht mal eben schnell Hilfe.“ Gerade jetzt im Frühsommer gebe es viele Kitze und Frischlinge, „der Tisch ist für den Wolf eigentlich reich gedeckt“. Trotzdem riskiere er die Konfrontation mit dem Menschen, so Zimmermann.
Der VNP rüstet angesichts der steigenden Gefahr durch das Anwachsen der Wolfspopulation jetzt nach. Die Schäfer sind mit GPS-Signalgeräten ausgestattet. Auch über eine Bewaffnung zur Vergrämung der Wölfe wird nachgedacht. Mit der Polizei sollen Übungen durchgeführt werden, damit sie im Notfall schnell den Schäfer in Not orten und erreichen können.
Der VNP-Chef sieht die Bewirtschaftung der Lüneburger Heide am Scheideweg. Entweder der Wolf werde so reguliert, dass er die Fluchtdistanz wahre, oder man müsse die historische Heidebewirtschaftung aufgeben. „Ich habe nichts gegen einen Lüneburger Wald statt Heide“, gibt Zimmermann gleich ein mögliches Zukunftsszenario mit auf den Weg. Die Heide sei nicht zu 100 Prozent mechanisch zu pflegen, zudem gehörten die Schnucken zum Kreislauf der Kulturlandschaft. „Nehmen Sie nur die Insekten, die den Dung der Schafe als Nahrungsgrundlage nutzen.“ Ohne Schnucken wird die Heide der Bewaldung weichen und sich die derzeitige Artenvielfalt ändern, so die eindeutige Botschaft Zimmermanns.
Was den VNP-Chef noch irritiert, sind Bedrohungen durch Wolfsbefürworter gegen seinen Schäfer. Auch Umweltminister Olaf Lies (SPD) ist bereits aufgrund seiner Entnahmeverfügung bedroht worden. Der Minister setzt sich für eine Regulierung der Wolfspopulation ein, hat erst im Mai einen Verordnungsentwurf in den Landtag eingebracht, der die Einzelentnahme auffälliger Wölfe ermöglichen soll. Das Bundesnaturschutzgesetz lässt die Entnahme einzelner Wölfe auch ohne eindeutige Identifizierung innerhalb eines Rudels zu.