„Ich habe große Solidarität erlebt“
Schneverdingen. Sie gibt interaktive Wunschkonzerte in Senioreneinrichtungen, erteilt Menschen mit Demenz therapeutischen Musikunterricht nach der von ihr entwickelten Anke-Feierabend-Methode, sie begleitet Sterbende, bringt Kindern und Erwachsenen das Geigespielen bei, sie ist Dozentin in der Berufsfortbildung an deutschen Weiterbildungsinstituten, sie hat den „Ton-Folgen-Verein für therapeutischen Musikunterricht“ gegründet, hält Vorträge und vieles mehr: Anke Feierabend aus Schneverdingen ist Freiberuflerin und kann sich über mangelnde Aufträge normalerweise nicht beklagen. Auch für 2020 war ihr Auftragsbuch gut gefüllt – doch dann kam die Corona-Pandemie und traf die Solo-Selbstständige mit voller Wucht. Die Aufträge brachen weg, die Einnahmen blieben aus. Die BZ sprach mit der 54-jährigen Schneverdingerin über das, was sie in den vergangenen Monaten erlebte und wie ihre aktuelle Situation ist.
Wie wirkte sich der Lockdown auf Ihre Arbeit aus?
Anke Feierabend: Die Orte, an denen ich beruflich unterwegs bin, insbesondere Weiterbildungsinstitute und Senioreneinrichtungen wurden geschlossen, und ich durfte nicht mehr hin. Kongresse, Messen und Fachtage wurden abgesagt. Zunächst war das für sechs Monate so. Doch Anfang Oktober sind mir weitere sieben Seminare bis zum Jahresende abgesagt worden, sogar solche, die bereits zugesagt waren – Auflage vom Ordnungsamt. Für mich bedeutet das: neun Monate fast keine Einnahmen. Ein Konzert konnte ich als Open-Air-Konzert anbieten. Fast alle Fortbildungen und Vorträge, die bis zum Jahresende gebucht waren, sind dagegen ersatzlos ausgefallen und dürfen auch weiterhin nicht stattfinden.
Und der Geigenunterricht bei Ihnen zuhause?
Meine Musikschüler kamen nicht mehr, vier haben gekündigt, nur eine blieb. Ich unterrichtete sie wochenlang online über „Zoom“. Allerdings ist meines Erachtens über dieses digitale Medium kein richtiger Unterricht möglich. Man hört den Ton nicht richtig, kann also tonlich nicht arbeiten und auch nicht wirklich an der Instrumentaltechnik – es war nur eine Notlösung.
Welche Erfahrungen machten Sie in finanzieller Hinsicht?
Ich erlebte von jetzt auf gleich einen Einbruch sämtlicher Einnahmequellen. Das war wirklich heftig. Es ist schwer, wenn plötzlich viel Geld einfach weg ist – Geld, mit dem ich gerechnet und das ich eingeplant hatte. Die Hauptarbeit für diese Einnahmen hatte und habe ich ja im Vorfeld geleistet, konnte die Ergebnisse jedoch während des Lockdowns und auch jetzt nicht abliefern und ging beziehungsweise gehe finanziell somit leer aus. Keine Einnahmen mehr als Solo-Selbstständige also. Hatten Sie zu der Zeit irgendwelche anderen Verdienstquellen? Ich bin im Rahmen des Uni-Projektes „Musik und Demenz“ mit einer Viertelstelle bei der Uni Vechta angestellt. Wobei eine Viertelstelle nicht viel ist. Damit komme ich nicht weit.
Das heißt, Sie kamen finanziell nicht klar? Was taten Sie daraufhin?
Ich habe die Corona-Soforthilfe vom Bund beantragt. Dieses Geld habe ich bekommen, wobei es natürlich nicht für ein halbes Jahr reichte. Und abgesehen davon ist es ja ausschließlich für berufliche Kosten gedacht, das heißt, es darf nicht für den Lebensunterhalt verwendet werden. Zum Leben musste ich also Hartz IV beantragen. Das fand ich ziemlich bitter, schließlich kann ich doch normalerweise von meiner Arbeit leben. Aber ich hatte keine andere Wahl. Natürlich bin ich froh, dass es überhaupt diese Aufstockung gibt. Mir wurde also Hartz IV bewilligt, aber echt wenig – 432 Euro. Eine Freundin meinte, das sei doch genug, ging aber davon aus, dass ich zusätzlich auch noch Mietkosten erhielt. Doch das war nicht der Fall. Ich bekam keine Mietkosten bezahlt. Da hab ich echt geschluckt – denn das reichte einfach nicht. Ich hab mir dann den Bescheid genau angeschaut und festgestellt, dass sich das Amt verrechnet hatte. Und zwar hatten sie mein Uni-Geld komplett abgezogen. Ein bestimmter Prozentsatz eines festen Einkommens ist aber abgabefrei. Das war schlichtweg ignoriert worden. Ich legte Widerspruch ein. Daraufhin schrieben sie mir, dass sie das nicht vergessen hätten, sondern im Nachhinein berücksichtigen wollten – was jedoch fadenscheinig ist, denn im ersten Bescheid stand, dass es keine Im-Nachhinein-Verrechnung gibt. Diese Endabrechnung, die normalerweise nach einem halben Jahr erfolgt, wird im Moment nicht gemacht, weil sie aktuell so viele Anträge haben.
Haben Sie dann die volle Leistung erhalten?
Ja, soweit sie mir als Aufstockung zustand. Allerdings hieß es trotzdem: Den Gürtel deutlich enger schnallen, denn den Hauptteil meiner weggebrochenen Einnahmen ersetzt mir ja niemand.
Wie fühlte es sich für Sie an, Hartz IV beantragen zu müssen?
Ich habe jetzt das zweite Mal in meinem Leben Erfahrungen mit Hartz IV gemacht. Im Vergleich zum ersten Mal vor Jahren war es diesmal relativ harmlos. Damals, beim ersten Mal, war das wesentliche Standbein meiner finanziellen Existenz von jetzt auf gleich weggebrochen. Beim Amt wurde ich an zwei Stellen von den Sachbearbeiterinnen derart abfällig behandelt, als sei ich minderbemittelt und für unsere Gesellschaft wertlos. Es wurden Fragen gestellt, die meinem Empfinden nach nicht statthaft sind. Es wurde versucht, Geld rauszuquetschen, wo keines rauszuquetschen war – zum Beispiel sollten meine studierenden Kinder mir von ihrem Bafög Geld bezahlen, damit ich durchkomme. Außerdem sollte ich meine Lebensversicherung auflösen – dabei ist das meine einzige Alterssicherung, da ich nur wenig Geld in die Rentenkasse einzahlen konnte. Ich habe damals darum gebeten, dass sie mich nicht in irgendeine fachfremde Arbeit vermitteln. Das hatten sie nämlich vor. Ich wollte meine Arbeit weitermachen – denn ich spüre, dass das meine Berufung ist. Ich wurde jedoch zu einer Maßnahme gezwungen. Dort sollte ich lernen, wie man eine Bewerbung schreibt. Ich wusste: Das ist verlorene Lebenszeit, in dieser Zeit kann ich Sinnvolleres machen. Ich weiß, wie man Bewerbungen schreibt. Die Sachbearbeiterin sagte daraufhin: Okay, dann lassen wir das. Das war an einem Freitag. Am darauffolgenden Montag hatte ich eine Aufforderung im Briefkasten, dass ich zu der Maßnahme kommen müsse. Ich ging von einem Missverständnis aus und rief an. Da wurde mir gesagt, die Sachbearbeiterin sei drei Wochen in Urlaub und wenn ich die Maßnahme nicht anträte, würde man mir einen Teil meines Geldes streichen. Das war Erpressung. Jetzt, 2020, habe ich eine Mail geschrieben, dass ich die Antragsunterlagen brauche, weil ich mich wieder arbeitslos melden müsse. Die Formulare wurden mir dann zugeschickt. Es war alles etwas selbstverständlicher – wohl auch deshalb, weil sie mich schon kannten. Sie wissen, was ich mache, dass ich selbst dafür sorge, so schnell wie möglich wieder Einnahmen zu akquirieren und hier zu Hause arbeite. Und da ich einen Namen habe, sind sie inzwischen vorsichtiger geworden. Und freundlicher.
Aber Ihre Aufträge waren doch weggebrochen. Was konnten Sie denn während des Lockdown Eigenes machen?
In jedem Seminar stecken Monate an Vorarbeit. Ich bin für nächstes Jahr komplett voll mit Seminarbuchungen. Fünf neue Seminare sind dabei, die muss ich alle vorbereiten, da bin ich mittendrin. Außerdem kann ich nicht einfach aufhören, meine Instrumente zu üben, nur weil ich keine Konzerte habe. Das ist wie bei einem Sportler, der kann auch nicht aufhören zu trainieren, weil er gerade keinen Wettkampf hat – seine Muskeln würden sich abbauen. Genauso ist es mit einem Instrument: Wenn ich das nicht regelmäßig übe, bin ich danach nicht mehr auf dem Stand, wie ich vorher war – und wenn ich meinen Stand halten will, dann muss ich regelmäßig üben. Das ist eine tägliche Arbeit. Auch lief und läuft noch das Uni-Projekt, für das ich mit einer Kollegin die neue Webseite www.musikunddemenz.de aufgebaut habe. Darin stecken Monate Arbeit. Dazu erhalte ich sehr viele Anfragen, die ich in Form von telefonischer Beratung und Mails beantworte, ohne dass das Geld bringt. Doch das gehört dazu. Auch viele Interviewanfragen müssen bedient werden. Über die große Resonanz freue ich mich natürlich. Ein Verlag will seit 2018, dass ich ein Buch für ihn schreibe. Erst dachte ich: Vielleicht hast du jetzt Zeit für das Buch. Pustekuchen! Ich hab so viel zu tun, dass ich dazu bislang nicht gekommen bin.
Sind Sie aus dem Hartz IV-Bezug inzwischen wieder raus?
Ja, ich hatte ein halbes Jahr beantragt und fünf Monate bewilligt bekommen, bis Ende August. Zu Beginn, schrieben sie, könne ich von dem leben, was ich noch hatte, was ich auch in Ordnung fand. Einen Folgeantrag habe ich bislang nicht gestellt, weil ich bis vor einigen Tagen davon ausging, dass ich jetzt wieder Seminare geben darf. Bei einem Institut konnte ich im September ein Seminar geben. Deshalb brauchte ich in dem Monat keine zusätzliche Hilfe. Wie es die nächsten Monate nun weitergeht, weiß ich noch nicht. Ich möchte keinen neuen Hartz-IV-Antrag stellen, und doch kann es sein, dass mir nichts anderes übrig bleibt. Ab Dezember habe ich Arbeitslosengeld I beantragt, denn Ende November endet das Uni-Projekt. Ich war dort zwei Jahre abhängig beschäftigt und habe somit Anspruch, aus der Arbeitslosenversicherung Geld zu beziehen. Doch das wird auch knapp sein, da mir ja nur 60 Prozent des letzten Gehaltes zustehen. Bei einer Viertelstelle ist das sehr wenig.
Und wie lief es bei dieser Antragstellung?
An einem Wochenende habe ich den Antrag online gestellt und dann montags angerufen, um nachzufragen, ob alles geklappt habe. Und ja, das hatte es. Ich hatte einen Mitarbeiter am Telefon, der nahm sich Zeit, war überaus freundlich – die Art, wie man behandelt wird, ist bei Arbeitslosengeld I offenbar deutlich anders als bei Hartz IV.
Mal angenommen, Sie wären Politikerin: Was hätten Sie in puncto Hilfen für Solo-Selbstständige anders gemacht?
Ich hätte die Corona-Soforthilfe nicht an Bedingungen geknüpft, die von fast keinem Solo-Selbstständigen erfüllt werden können. Ich kenne diverse Kollegen, die zuhause arbeiten und nur geringe laufende berufliche Kosten haben – die mussten jetzt zum Teil das vom Staat erhaltene Geld anteilig zurückzahlen. Ich finde das nicht in Ordnung, denn man hat ja neben den beruflichen auch seine laufenden Lebenskosten, und die gehören ja im Grunde zum Beruf dazu. Denn wenn ich nicht angemessen wohne, mich nicht vernünftig kleiden und nicht vernünftig essen und leben kann, dann kann ich auch meine Arbeit nicht vernünftig machen. Im kreativen Bereich gilt zudem: Erfolgreich kreativ tätig sein kann man nur, wenn man keine Sorgen hat, insbesondere keine finanziellen. Ob ich ein Seminar oder einen Vortrag ausarbeite, ob ich an einem Buch schreibe oder etwas komponiere: Egal, was ich in kreativer Weise tue – wenn ich dabei große Sorgen habe, geht das nicht, weil ich dann blockiert bin. Jede Form von Angst blockiert das Gehirn. Das schränkt den Erfolg der Arbeit massiv ein. Aufgrund meiner Biografie bin ich jedoch geübt darin, Krisen zu überstehen. So habe ich mich in diesen Monaten nicht runterziehen lassen, aber ich weiß von Kollegen, dass sie damit ein Riesenproblem haben.
Themenwechsel: Sie arbeiten viel mit älteren Menschen – was haben Sie in den vergangenen Monaten aus Seniorenheimen gehört? Wie gehen Senioren mit Isolation um? Viele sind ja seit Monaten sehr einsam ...
Das ist grausam. Die Menschen sind nicht gefragt worden, ob sie überhaupt geschützt werden wollen. Der vermeintliche Schutz ist für viele der beschleunigte Weg ins Grab. Sie gehen an Einsamkeit zugrunde. Es gibt sehr, sehr viele alte Menschen, die klar sagen: „Ich möchte nicht geschützt werden. Ich möchte die wenige Lebenszeit, die mir noch bleibt, so verbringen, dass ich möglichst viel Lebensqualität habe.“ Und Lebensqualität bedeutet für alte Menschen: Kontakt. Persönliche Ansprache, sich mit Angehörigen und Freunden austauschen, Körperkontakt. Das ist ihnen von jetzt auf gleich genommen worden. Sie wurden und werden wie unmündige Bürger behandelt. Es wurde einfach über ihren Kopf hinweg etwas entschieden und sie mussten und müssen da durch, ob sie wollen oder nicht. Das hat ganz, ganz schlimme Auswirkungen. Sehr viele Menschen, die noch nicht dement waren, haben in diesen Monaten eine Demenz entwickelt – weil ihnen persönliche Ansprache fehlt, weil sie keine kognitiven und emotionalen Anregungen haben, weil sie vereinsamt sind. Kontaktarmut und das Gefühl von Einsamkeit sind extreme Risikofaktoren für Demenz. Und sie beschleunigen bestehende Demenzen. Die Pflege- und Betreuungskräfte können diesen Mangel nicht ausgleichen, selbst wenn sie noch so viele Überstunden machen. Ich weiß von Besuchsregeln, die nur zwölf Angehörige als Einzelpersonen täglich ins Haus lassen – bei 120 Heimbewohnern. Da können Sie sich ausrechnen, wie lange es dauert, bis jeder Bewohner einen Angehörigen gesehen hat – mit Maske. Die Einzelpersonregelung hat zudem zur Folge, dass jüngere Enkel, die noch nicht alleine kommen können, über Monate nicht zu den Großeltern dürfen! Ein Heimleiter sagte mir verzweifelt: „Uns sterben die alten Menschen unter den Händen weg, aber nicht am Virus, sondern vor Einsamkeit.“
Ist jeder Mensch, der allein ist, gefährdet?
Nein. Wenn ich zuhause allein bin, mich aber nicht im negativen Sinn einsam fühle, ist das überhaupt kein Problem. Dann ist das kein Risikofaktor für Demenz. Wenn ich aber zuhause sitze und mich einsam und verlassen fühle, wenn ich also dieses negative Gefühl von Verlassenheit habe, dann ist es ein großer Risikofaktor für Demenz. Es gibt aber noch eine viel schlimmere Situation: Wenn ich in einer Gemeinschaft lebe, beispielsweise in einem Heim oder in einer Familie, und ich fühle mich dort nicht gesehen, nicht gehört, nicht wahrgenommen, nicht geachtet und habe nicht die Möglichkeit, das zu kommunizieren und dem zu entkommen, dann bin ich noch viel einsamer als der einsame Mensch, der allein zuhause sitzt. Und dann ist das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, noch viel, viel größer. Es ist, wie am gedeckten Tisch zu verhungern.
Gibt es sonst noch etwas Wichtiges zu den vergangenen Monaten zu berichten?
Ja. Ich habe große Solidarität erlebt. Nicht nur befreundete Menschen und Mitglieder des Vereins Ton-Folgen haben bei mir angerufen und gefragt: Können wir helfen? Auch völlig fremde Menschen, die mitbekommen haben, in welcher Situation ich bin, boten Hilfe an. Das hat mich zutiefst berührt und tut es immer noch. Ob es Gespräche waren, ein Blumentopf oder ein Korb mit Birnen vor der Haustüre, Essensgaben meiner Nachbarin, die einfach mehr gekocht hat, oder eine Einladung zum Essen – ich fühlte und fühle mich getragen von diesen Menschen, die mir signalisieren: Du bist nicht allein. Ihnen gilt mein besonderer Dank.
Interview: Marcel Maack