Pro Wahlrecht mit 16
Unser Gastautor Prof. Dr. Hermann K. Heußner lehrt öffentliches Recht und Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule Osnabrück
Wird Staatsbürgern das Wahlrecht vorenthalten, zählen sie in der Wahl nichts. Ihnen fehlt das demokratische Existenzminimum. Dementsprechend sagt das Bundesverfassungsgericht: „Das Wahlrecht ist der wichtigste vom Grundgesetz gewährleistete subjektive Anspruch der Bürger auf demokratische Teilhabe (... Er) ist in der Würde des Menschen (...) verankert.“
Wegen dieses überragenden Wertes des Wahlrechts verlangt das Bundesverfassungsgericht für dessen Entzug zwingende Gründe. Diese gibt es bei der großen Mehrheit der 16- und 17-Jährigen nicht. Denn sie haben die notwendige Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Der führende Jugendforscher in Deutschland, Klaus Hurrelmann, sagt: „Die kognitive Entwicklungsforschung zeigt, dass in der Altersspanne zwischen 12 und 14 Jahren bei fast allen Jugendlichen ein intellektueller Entwicklungsschub stattfindet, der sie dazu befähigt, abstrakt, hypothetisch und logisch zu denken. Parallel hierzu steigt in dieser Altersspanne auch die Fähigkeit an, sozial, ethisch und politisch zu denken und entsprechende Urteile abzugeben. Wollen wir von einer ‚Reife‘ der Urteilsfähigkeit – nicht der gesamten Persönlichkeit – sprechen, dann ist sie in diesem Alter gegeben. Regeln und Werte können nach dem 14. Lebensjahr unabhängig von eigenen Interessen wahrgenommen und umgesetzt, die Intentionen der Handlungen anderer können erkannt und berücksichtigt, komplexe Zusammenhänge intellektuell verstanden werden.“
Die auf 18 Jahre festgelegte zivilrechtliche Volljährigkeit ist kein zwingender Grund, das Wahlrecht vorzuenthalten. Denn diese Alters- grenze sagt nichts über die Reife der 16- und 17-Jährigen aus. Sie dient vielmehr dem Schutz der Minderheit in dieser Altersgruppe, die gefährdet ist, sich durch ris- kante Rechtsgeschäfte ins Unglück zu stürzen. Und die strafrechtliche Besserstellung der Jugendlichen ist irrelevant. Denn nur circa fünf Prozent von ihnen sind straftat- verdächtig. Wenn aber über 90 Prozent gar nicht in den Genuss der Besserstellung kommen, kann diese kein Grund sein, allen das Wahlrecht vorzuenthalten.
Das Wahlrecht ab 16 gibt es schon in vielen Ländern, zum Beispiel in Österreich seit 2007 auf allen politischen Ebenen. In Deutschland existiert es auf der Kommunalebene in elf und auf Landesebene in vier Bundesländern. Nirgends wird berichtet, dass dies Bürgern geschadet oder zu schlechterer Politik geführt hätte. Das Wahlrecht ab 16 hat den Rea- litätstest bestanden und bestätigt die Reife der Jugendlichen.
Absenkung des Wahlalters verfassungspolitisch geboten
Dies alles bedeutet: In Bundesländern, in denen 18 Jahre in der Verfassung nicht festgeschrieben sind, haben die Parlamente die Rechtspflicht, das Wahlalter zu senken. Dasselbe gilt für den Bundestag bei den Europawahlen. Das im Grundgesetz für die Bundestagswahlen und in vielen Landesverfassungen für Landtags- und zum Teil für Kommunalwahlen festgelegte Wahlmindestalter von 18 Jahren hat lediglich aufgrund der formalstarren Festlegung in den jeweiligen Verfassungen Bestand. Deshalb ist die Absenkung verfassungspolitisch dringend geboten. 18 Jahre haben keine innere sachliche Rechtfertigung.
Damit auch Kinder, die noch nicht hinreichend einsichts- und urteilsfähig sind, eine Stimme haben, ist eine elterliches Stellver- treterwahlrecht einzuführen. Wahlen haben die wesentliche Funktion, dass die Interessen aller Staatsbürger zum Zuge kommen. Es ist völlig naiv anzunehmen, dass die Älteren und Alten die Interessen der Kinder und Jugend- lichen mit wahrnehmen. Würden sie es tun, gäbe es keine Klimakatastrophe. Würden Sie es tun, wäre die Kinder- und Jugendlichenarmut nicht um die Hälfte höher als die Altersarmut. Und weil die Alten im Wesentlichen an ihre eigenen Interessen denken, ziehen die Schüler in der Pandemie ständig den Kürzeren.