„Eltern müssen sich selbst kundig machen“

Soziale Netzwerke gehören zur Lebenswelt der meisten Jugendlichen. Auf die Risiken die damit einhergehen, sind Eltern oft nicht vorbereitet.„Eltern müssen sich selbst kundig machen“

Zweieinhalb Stunden verbringen Kinder und Jugendliche an einem normalen Wochentag durchschnittlich in sozialen Netzwerken. Dabei tauschen sie sich nicht nur mit ihren Freunden aus, sondern sehen auch problematische Inhalte. Auf Tik-Tok, Yotube und Instagram finden sich neben Urlaubsfotos, Make-Up-Tipps und witzigen Kurzvideo auch explizite Folterdarstellungen, politische Propaganda und pornografische Inhalte. Silke Müller ist Schulleiterin an der Waldschule Hatten und Niedersachsens erste Digitalbotschafterin. Sie hat sich in zwei Büchern mit den Risiken von sozialen Netzwerken und künstlicher Intelligenz (KI) auseinandergesetzt. Im September ist Müller bei den Soltauer Gesprächen zu Gast, im Interview spricht sie darüber, wie soziale Medien Mobbing verändern und warum Eltern sich einen Tik-Tok-Account anlegen sollten.

Was sollten Eltern zu sozialen Medien wissen?

Silke Müller: Man kann das gut mit dem Straßenverkehr oder gesunder Ernährung vergleichen. Eltern wissen meist, was dem Kind guttut und wo es beschützt werden muss. Bei sozialen Netzwerken fehlt oft das Bewusstsein, dass auch sie einen erheblichen Einfluss auf das Alltagsleben und die Sicherheit des Kindes haben können – ähnlich wie schlechte Ernährung oder Gefahren im Straßenverkehr.

Was können Eltern also tun?

Erst einmal muss man soziale Netzwerke als potenzielle Gefahrenquelle identifizieren. Es ist wichtig, dass Eltern Grundkenntnisse über Social Media haben, dass sie wissen, was dort möglich ist – das Kind kommt mit Fremden in Kontakt, sieht sehr brutale oder pornografische Inhalte. Dafür müssen Eltern sich selbst sehr, sehr kundig machen. Da kommt oft die Frage: Aber wo denn, ich kann mich ja jetzt nicht in jedem Netzwerk anmelden? Ich glaube aber schon, dass es Sinn ergibt, sich die bei Kindern gehypten Netzwerke wie Snapchat oder Tik-Tok herunterzuladen und einfach mal zu spüren, wie das funktioniert, wie abhängig das macht. Eltern sollten zumindest wissen, wo ihr Kind unterwegs ist und welche Inhalte da konsumiert werden.

Gerade dieser Abhängigkeitseffekt von sozialen Medien wie Tik-Tok ist von außen nur schwer nachzuvollziehen.

Das kann man gut verdeutlichen, indem man auf eigene Erfahrungen zurückgreift. Jeder, der Instagram aktiv nutzt, kennt das Gefühl zu scrollen, auf die Uhr zu gucken und zu merken, dass 20 Minuten weg sind, ohne dass man wirklich etwas Relevantes gesehen hat. Bei Tik-Tok ist es ähnlich – oft fragt man sich, was für ein Quatsch dort eigentlich verbreitet wird. Aber der Einfluss ist deutlich spürbar, und es ergibt daher Sinn, dass Eltern diese Plattformen selbst erleben. Dadurch können sie besser mit ihren Kindern über die Nutzung sprechen. Eltern denken oft, dass technische Einschränkungen, die zeigen, wie viel Zeit das Kind auf den Plattformen verbringt oder die eine Kontrolle darüber ermöglichen, welche Apps heruntergeladen werden, reichen. Das ist gut und richtig, aber es ist eben nicht ausreichend. Es geht eben nicht nur um die Zeit, sondern auch um die Inhalte.

Welche Veränderungen haben Sie bei Ihren Schülerinnen und Schülern in Bezug auf soziale Medien wahrgenommen?

Mir ist tatsächlich weniger etwas bei meinen Schülerinnen und Schülern als bei uns als Gesellschaft ganz viel aufgefallen. Besonders beunruhigend finde ich, was Menschen heutzutage alles filmen und ins Netz stellen und wie widerwärtig das zum Teil ist. In der Schule habe ich gemerkt, dass sich die Fälle verändern, wenn Kinder Sorgen haben. Der klassische Streit oder das klassische Mobbing haben sich verändert. Kinder kommen zu mir und berichten von Fake-Profilen, die über sie angelegt, Fotos, die ohne ihr Einverständnis ins Netz gestellt werden. Für mich war 2018 der Gongschlag, als Tik-Tok Einzug gehalten hat. Das hat noch einmal massiv etwas verändert. Die Entwicklung war aber auch schon bei Instagram und Whats-App zu beobachten. Was hinter der Glasscheibe passiert, verliert außerdem den Bezug zur Realität. Wir müssen die Kinder immer wieder daran erinnern, dass das echte Menschen sind, mit denen da etwas gemacht wird. Da hat man das Gefühl, dass sich irgendetwas über die Seele und das Gewissen legt, um das abzuschirmen. Auch die Konzentrationsfähigkeit der Kinder wird beeinflusst: 90 Minuten lang einen Film zu gucken oder sich einmal still auf eine Aufgabe zu konzentrieren, fällt ihnen schwer.

Waren diese Beobachtungen, die Motivation für Ihre Bücher?

Maßgeblich war die Frage: Wie erreicht man Menschen? Wie erreicht man sie, um sie für das Thema zu sensibilisieren? In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist damals ein Artikel über meine Tätigkeit und meine Arbeit erschienen, daraufhin rief mich mein jetziger Schriftstelleragent an und sagte: Ich meine, Sie sollten darüber ein Buch schreiben. Ich habe dann lange überlegt und mich dann dafür entschieden, weil ich dachte, es könnte richtig sein, Menschen so zu erreichen und ihnen Zeit zu geben, sich in das Thema hereinzulesen. Bei einem Instagram-Post, einer „LinkedIn“-Nachricht oder in einem Elternbrief ist dafür nicht genügend Zeit da. So ist das erste Buch: „Wir verlieren unsere Kinder“ entstanden.

Und dann kam sehr schnell das Zweite.

Genau, parallel entwickelte sich das Thema KI, und das wird gesellschaftlich wieder nicht begleitet: Man guckt mal, was passiert, hat gar keinen Zugang dazu und weiß auch nicht, wie man Kenntnisse erlangen soll. Da habe ich gesagt, da muss schnell das zweite Buch dazukommen, in dem ich versuche sehr niedrigschwellig aufzuklären.

Inwieweit ist KI schon Thema in der Schule?

In der Bildung ist es Thema, wie künstliche Intelligenz das Bildungssystem verbessern kann. Da geht es darum, differenzierter, schneller und effizienter arbeiten zu können. Ich selbst nutze KI in meinem Alltag ganz viel. Einerseits zur Arbeitserleichterung, aber manchmal auch zur Strategisierung. Wenn ich über einen Gedanken nachdenke, lasse ich ihn oft durch ein schulisches GPT oder Chat-GPT laufen, um Hinweise zu bekommen, was ich vielleicht übersehen habe. Das ist manchmal sehr sinnvoll. Außerdem nutze ich KI, um Elternbriefe in einfacher Sprache zu verfassen. Ich schreibe oft sehr ausführlich, was nicht für alle Leser verständlich ist. Chat-GPT hilft mir dabei, die Texte verständlicher zu machen. Das spart Zeit. Ich könnte das auch selbst machen, aber ich glaube manchmal, ich kann das nicht so gut und schnell wie die KI.

Und wie sieht es bei Ihren Schülerinnen und Schülern aus, wie nutzen sie KI?

Für Schüler ist KI momentan aus zwei Gründen besonders interessant. Erstens nutzen Schüler der mittleren Bildungsschicht KI, um Arbeit zu sparen zum Beispiel bei den Hausaufgaben. Es gibt bereits Apps, bei denen man lediglich die Aufgaben abfotografieren muss, und die KI erledigt den Rest. Als Kind hätte ich das vermutlich auch genutzt, ich habe früher oft ganz klassisch im Bus die Hausaufgaben abgeschrieben. Mir hat das nicht geschadet, aber es kann dazu führen, dass Kinder dadurch keinen wirklichen Lernzuwachs mehr erfahren und sich nicht mehr reflektiert mit den Inhalten auseinandersetzen.

Und der zweite Grund?

Der andere Grund ist, dass Schüler KI nutzen, um auf negative Weise kreativ zu sein. Sie fertigen Fakes an, manipulieren Fotos und verfälschen Videos und das wird wiederum genutzt, um andere zu demütigen. Das klassische Mobbing und das Cybermobbing haben noch einmal eine neue Dimension erreicht. Beispielsweise können Schüler aus einem Klassenfoto jemanden herausmanipulieren, der kein gutes Standing in der Klasse hat, oder ein Video von der Klassenfahrt manipulieren und mit beleidigenden Kommentaren versehen. Ein weiteres aktuelles Problem sind gefälschte Sprachnachrichten, in denen die Stimmen der Eltern imitiert werden. Die App-Stores wachsen täglich, und die Kinder erfinden ständig neue Methoden, um diese Technologien zu nutzen. Auf Plattformen wie Tik-Tok wird oft für solche Anwendungen geworben, meist in spielerischer Weise, aber die Schüler nutzen sie natürlich sofort. Am kommenden Dienstag geht es im zweiten Teil des Interviews darum, was Schulen und Eltern tun können, um Kinder und Jugendliche für soziale Netzwerke fit zu machen.

Interview: Janika Schönbach

Janika Schönbach