"Eine Woche lang nicht behindert sein"
Das Jugendcamp soll Kindern mit Amputationen oder Gliedmaßenfehlbildung zeigen, was auch mit ihrer Behinderung alles möglich ist, sagt Organisator Detlef Sonnenberg (rechts). Foto: BMAB
Soltau. Kanu fahren, im Hochseilgarten klettern oder schwimmen - das machen zu können, ist für die meisten Kinder eine Selbstverständlichkeit. Für Kinder mit Amputationen oder Gliedmaßenfehlbildungen ist es das oft nicht. "Diese Kinder hören vor allem, das kannst du mit der Amputation nicht mehr, das geht nicht mehr", sagt Detlef Sonnenberg, Vizepräsident des Bundesverbands für Menschen mit Arm- oder Beinamputation (BMAB). Dabei könnten diese Kinder viel mehr, als ihnen von Ärzten oder ihrem Umfeld zugetraut wird. Um ihnen andere Erfahrungen zu ermöglichen, veranstaltet der BMAB ein Sommercamp für Kinder und Jugendliche von acht bis 17 Jahren.
Der Verband organisiert das Jugendcamp für Kinder und Jugendliche mit Amputationen und Gliedmaßenfehlbildungen seit 2015. Der Stützpunkt des Camps ist in der Nähe von Celle im Anne-Frank-Haus des CVJM in Hambühren/Oldau. Die Idee stammt aus den USA. Dort veranstaltet die "Amputee Coalition of America" das Paddy-Rossbach-Youth-Camp. Der deutsche Verband übernahm die Idee, weil die Verbandsmitglieder festgestellt hatten, dass es für Kinder mit Amputationen an Austauschmöglichkeiten mit anderen Kindern, in der gleichen Situation mangelte. Zwar gibt es in Deutschland Selbsthilfegruppen für Menschen mit Amputationen, diese Gruppen richten sich aber an Erwachsene. Für Kinder gibt es ein solches Angebot nicht. "Wir haben bei den Selbsthilfegruppen für Erwachsene immer wieder festgestellt, wie wichtig, der aktive Austausch ist, sich untereinander kennenzulernen und zum Beispiel über Prothesen auszutauschen. Die Kinder haben danach genauso Bedarf", sagt der Vizepräsident des BMAB.
Das Programm des Jugendcamps ist auch darauf ausgelegt, den Kindern zu zeigen, welche Möglichkeiten sie auch mit ihrer Behinderung haben. "Wir gehen mit den Kindern in den Kletterpark, fahren mit ihnen Kanu, gehen ins Schwimmbad und tauchen mit Sauerstoffflaschen. Alles Sachen, die für Kinder mit diesen Behinderungen nicht normal sind", sagt Sonnenberg, "Sie merken da, was alles geht, was sie können und auch, wenn es erst einmal nicht geht, kriegen sie heraus, wie sie es anders hinbekommen. Bei uns machen sie die Erfahrung, eine Woche lang nicht behindert zu sein."
Auch an die Eltern wird gedacht. Sie können den letzten Tag des Camps gemeinsam mit den Kindern auf dem Gelände verbringen. Das Team organisiert eine Aktion wie Kistenklettern oder einen Kletterturm und Hilfsmittelhersteller informieren über ihre Produkte. "Viele Eltern sind da völlig unterinformiert", sagt Sonnenberg, "Sie haben ja auch keine Austauschmöglichkeiten, den geht es da wie den Kindern. Die kennen keine anderen Kinder und die Eltern kennen keine anderen Eltern mit dieser Behinderung."
Die Aktivitäten im Camp haben Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein der Kinder. "Von den Eltern hören wir nach dem Camp schon mal: 'was habt ihr mit unserem Kind gemacht, es ist zu Hause wie ausgewechselt'", sagt Sonnenberg. Die Kinder hätten nach dem Camp oft mehr Selbstvertrauen, setzen sich mehr durch und wollten auch zu Hause, die Sportarten, die sie aus dem Camp kennen ausprobieren.
Dort sind sie oft auch zum ersten Mal nicht mehr die einzigen mit Amputation. Kinder und Jugendliche mit Amputationen oder Gliedmaßenfehlbildungen würden sich oft selbst nicht viel zutrauen. Ihnen fehlten Vorbilder. Wer vor allem zu hören bekommt, was er alles nicht kann, der traut sich das selbst auch nicht mehr zu. "Die Kinder und Jugendlichen schätzen sich oft selbst zu schwach oder zu schlecht ein. Dabei können sie wesentlich mehr, als sie denken", sagt Sonnenberg. Im Jugendcamp können sie einander Vorbilder sein. Es gebe immer Kinder, die sich mehr trauten als die anderen und denen zeigten, was alles möglich ist. Ein weiterer Vorteil des Camps: "Die Kinder und Jugendlichen sind es gewohnt, ständig angeguckt zu werden. Wenn wir aber mit 50 Kindern im Freibad auftauchen und alle tragen Prothesen, haben Amputationen, dann wissen die Leute gar nicht mehr, wo sie hingucken sollen", sagt Sonnenberg. Ziel des Teams sei es, dass alle Kinder und Jugendlichen aus der Zeit im Camp gestärkt herausgehen. "Das haben wir bisher bei allen Kindern hinbekommen", sagt Sonnenberg.