„Wir prägen hier zukünftige Bürger“
Gaby Tinnemeier hat in den letzten zwei Jahrzehnten das Bild einer der größten Bildungseinrichtungen im Heidekreis, der Berufsbildenden Schulen Soltau, geprägt. Jetzt wechselt die 60-Jährige in das Niedersächsische Landesinstitut für Qualitätsentwicklung in Hildesheim (NLQ) und wird Leiterin der Fachgruppe 23. Bislang ist sie Vorgesetzte von 140 Lehrkräften und weiterem Verwaltungspersonal und verantwortlich für gut 2000 Schüler. Ab Februar wird sie für alle Berufsbildenden Schulen in Niedersachsen für das Thema externe Evaluation zuständig sein.
Eine Umstellung ja, das werde es wohl werden, gibt sie zu. Dennoch ist für sie das Kapitel Schulleitung gut abgeschlossen und ohne Baustellen: „Ich gehe mit einem runden Gefühl. Wir haben ein tolles Leitungsteam und ein konstruktives Kollegium.“
Nur wenige Punkte auf der Liste bis zum endgültigen Abschied am kommenden Montag sind noch abzuhaken. Beispielsweise die letzten Hinweise an ihren Stellvertreter Thomas Brost, der die Schule bis zur Neubesetzung des Chef- oder Chefinnenpostens leiten wird: „Hier sind noch Ordner, den Inhalt sortiere ich noch. Die Bücher hier, da musst Du sehen, was Du damit machst“, erklärt sie ihm am Mittwochnachmittag den Inhalt eines Schranks in ihrem Büro.
Als Tinnemeier in die Ausbildung startete, war längst nicht abzusehen, dass sie ihre ehemalige Berufsbildende Schule einmal leiten würde. Sie machte nach dem Abitur eine Friseurausbildung, wollte ans Theater als Masken- oder Bühnenbildnerin. „Ich wollte definitiv nicht Lehrerin werden“, sagt sie im Interview.
Und was hat dennoch den Ausschlag gegeben?
Gaby Tinnemeier: Um ans Theater zu kommen, brauchte man damals Beziehungen. Die hatte ich nicht. Zudem war ich immer wieder von Lehrern angesprochen worden, doch in diese Richtung zu gehen. Also informierte ich mich in Hamburg über das Lehramt an beruflichen Schulen, das ein Lehramt an der Oberstufe ist, sowie über Englisch und Kunst als ergänzende Unterrichtsfächer. Dass mir der Lehrerberuf richtig Spaß macht, habe ich dann im Schulpraktikum glücklich festgestellt.
Wie ging es von Hamburg zurück in die Lüneburger Heide?
Es war vor allem die Belastung des Pendelns. Ich hatte schon Sorge: Entweder stirbst du auf der Autobahn bei einem Unfall oder an einem Herzinfarkt. Also beantragte ich einen Ländertausch und wechselte dann an die BBS Soltau. Nach einer gewissen Zeit wurde ich in den Personalrat gewählt und habe so erstmals die Arbeit der Schulleitung erlebt.
Dabei blieb es aber nicht. Ist es nicht auch heute noch ungewöhnlich, dass man aus dem eigenen Haus heraus Schulleiterin werden kann?
Ja, das ist eher nicht gewünscht. Aber ich wurde aus dem Kollegium heraus motiviert und ich wollte auch gerne gestalten. Im Nachhinein betrachtet, war das schon sehr mutig. Der Rollenwechsel war wirklich krass, besonders der von der Kollegin zur ständigen Vertreterin. Zu der Zeit hatte ich eine rein männliche Schulleitungsrunde und alle waren deutlich erfahrener und älter als ich. Ja, das waren interessante Zeiten.
Fast fünf Jahre waren sie als Stellvertreterin tätig, bevor sie das Bewerbungsverfahren als Schulleiterin für sich entschieden. Was haben Sie verändert?
Mir war wichtig, miteinander zu arbeiten, sich aufeinander verlassen zu können. Ich sage immer, ohne Verbindung hat man auch keine Verbindlichkeit. Und das hat Früchte getragen, finde ich: Wir haben jetzt eine flache Hierarchie mit einer Teamstruktur. Die gestalterischen Elemente, die mich ursprünglich ans Theater zogen, die waren Teil meiner Aufgabe als Schulleiterin.
Wo sehen sie heute die Berufsbildenden Schulen im Schulsystem in Niedersachsen?
Es gibt 130 berufsbildende und ungleich mehr allgemeinbildende Schulen. Sie werden leider oft isoliert vom Schulsystem gesehen.
Was hat sich verändert?
Ich sehe, dass Eltern zunehmend teils überfordert sind. Daher ist es im Heidekreis gut, dass wir als Bildungsregion agieren und die Übergänge zwischen allgemein- und berufsbildenden Schulen stärken. Durch zahlreiche Kooperationen wurde ein breites Berufsorientierungsangebot entwickelt. Auch die Etablierung der Jugendberufsagentur im Haus der BBS war ein wichtiger und erfolgreicher Baustein. Ich bin glücklich darüber, dass wir als Schulen insgesamt zusammengerückt sind.
Gerade im Zuge der verstärkten Zuwanderung gibt es große Herausforderungen, die letztlich auch auf den Schultern der BBS Soltau liegen.
Wir arbeiten sehr pragmatisch und lösungsorientiert. Schimpfen und klagen kann man, aber ich habe immer versucht, uns konstruktiv einzubringen, beispielsweise durch die Mitwirkung als Mitglied im Berufsbildungsausschuss oder in anderen Gremien wie dem niedersächsischen Direktorenverband für berufsbildende Schulen. Konstruktiv kommt man weiter. Das ist ja auch bei der Demokratie so.
Wie meinen Sie das?
Schule ist ein Ort, in dem Demokratie passiert. Ich finde es wichtig, dass die Verantwortung, die demokratischen Möglichkeiten zu nutzen, wirklich bei jedem Einzelnen liegt. Da helfen uns Demos nur bedingt, wenn sie auch wichtig sind. Der nächste Schritt ist, auch Verantwortung zu übernehmen. Diese Chancen tatsächlich zu nutzen, wünsche ich mir Schüler- und auch Elternschaft: Dass sie die demokratischen Gremien in der Schule nutzen, um mitzuwirken und ihre Vorstellungen zu äußern. Ja, dafür muss man auch Freizeit opfern.
Wie weit ist das Kollegium?
Wir haben ein gutes Qualitätsmanagement. Wir befragen unsere Kollegen, die Schülerschaft, die Ausbildungsbetriebe, wir laden die Eltern ein, sich zu begegnen und mitzuwirken. Nur dank der Rückmeldungen aller Beteiligten können wir besser werden.
Einen Namen hat sich die BBS Soltau unter ihrer Leitung als Europaschule gemacht.
So können wir den jungen Leuten deutlich machen, dass sie europäische Bürger sind, dass sie die Zukunft in Europa mitgestalten können, wie auch die des Heidekreises und des Landes.
Das ist viel Verantwortung für eine BBS mit so unterschiedlicher Schülerschaft, die nicht nur einen Beruf lernen, sondern teils auch ihr Abitur absolvieren...
Aber welche Aufgabe hat Berufsbildung? Richten wir nur junge Leute darauf ein, dass sie fachlich funktionieren? Nein, wir prägen hier zukünftige Bürger. Daher legen wir so viel Wert darauf, dass junge Menschen lernen, eigenverantwortlich zu arbeiten, dass ihnen bewusst wird, dass sie ihr selbst Leben gestalten und im Griff haben müssen, dass sie ihre Entscheidungen treffen und nicht zuerst die Probleme bei anderen suchen. In unserer Schule ist es immer Ziel gewesen, jungen Leuten die Eigenverantwortung zu lehren und ihnen zu zeigen, dass die Lehrer keine „Dompteure“ sind. Und zurück zur Demokratie: Wenn wir jetzt lange so bequem auf dem Sofa gesessen haben, dann müssen wir uns doch nicht wundern, dass es mühsam ist, jetzt aufzustehen. Das war schon fast ein Wort zum Sonntag (lacht).
Gibt es etwas, dass sich in 20 Jahren nicht verändert hat?
Dass sich die Rahmenlehrpläne für alle Berufe regelmäßig ändern. Alle drei bis fünf Jahre müssen sie angepasst werden. Die Veränderung ist quasi der Bestand. Die Berufsbildenden Schulen sind die, die am dichtesten am Arbeitsmarkt agieren, den höchsten Veränderungsdruck haben.
Spüren Sie den Fachkräftemangel und damit, dass junge Leute heute eine große Wahl an Ausbildungsplätzen haben?
Ja. Dennoch müssen sie sich reflektieren, Stärken und Schwächen erkennen und realistisch sein. Das ist schließlich die Grundvoraussetzung, sich zu bewerben und ein gutes Matching zu haben.
Aber dennoch sind die Möglichkeiten heute andere.
Tatsächlich. Aber wir erleben, dass auch die zwei Jahre Corona Spuren der Verunsicherung hinterlassen haben. Und in dieser Phase kommt dazu, dass die Babyboomer in Rente gehen, es einen Generationswechsel gibt. Diese Generationen sind sehr unterschiedlich geprägt worden. Es gibt andere Sichtweisen auf Arbeit.
Aber ist das tatsächlich so?
Ich höre es von vielen Betrieben. Aber warum ticken die jungen Menschen so anders? Weil sie vielleicht auch gesehen haben, dass ihre Eltern sich kaputtgemacht haben bei der Arbeit, weil diese einen hohen Druck hatten. Und das wollen sie nicht mehr. Wie gesagt, es prallen auch Prägungen und Vorstellungen aufeinander. Deshalb habe ich noch einen Prozess angestoßen, der mir wichtig ist.
Wie meinen Sie das?
Wir haben unsere Leitungs- und Verantwortungskultur, den Geschäftsverteilungsplan und alles, was dazu gehört, neu durchdekliniert. Wir brauchen einen neuen Arbeitsethos, damit sich diese Generationen gegenseitig bereichern. Entscheidend ist immer, wie man zusammenarbeitet. Arbeiten muss auch Spaß machen, es muss erfüllen. Das gilt nicht nur für die Lehrer, sondern auch für die Schüler, die wir auf den Weg ins Berufsleben bringen.