Film von 1902, Musik von 2023
Es waren einst die Klavierknechte, so bezeichnet sie jedenfalls Sönke Klegin, die dem Stummfilm seine Stimme gaben. Je nach Geschehen auf der Leinwand improvisierten diese Musiker ohne feste Notenvorgabe, unterstrichen das Visuelle durch das Akustische, mal dramatisch, mal romantisch gaben sie dem Abenteuer in Schwarzweiß gewissermaßen eine farbige Nuance.
Dabei ging es zunächst auch darum, störende Geräusche wie das Rattern der Geräte bei den Filmvorführungen zu übertönen. Zum allerersten Mal soll das 1895 geschehen sein, als die Gebrüder Lumière in Paris kurze Filme vorstellten, die ein Pianist live untermalte. Ein weiterer Höhepunkt der jungen Filmgeschichte ereignete sich 1902, als der erste Science-Fiction-Film über die Leinwand flimmerte. Nicht einmal eine Viertelstunde dauerte Georges Méliés „Reise zum Mond“. Und doch war der Film so fantastisch, von Méliés technisch so clever umgesetzt, dass er die Menschen bis heute fasziniert.
Auch Jürgen Heusler und Sönke Klegin, beide Musiker und im Kulturverein Soltau engagiert, beruflich leiten sie die Musikschule Heidekreis. Sie suchten nach einem besonderen Programmpunkt für das diesjährige Lichterfest in Soltau. Über „Dick und Doof“ dachten sie nur kurz nach, fündig wurden sie schließlich auf der Liste der 100 bedeutendsten Filme der Geschichte.
Erstmals ist das Lichterfest im Böhmepark in diesem Jahr am ersten Septemberwochenende an zwei Tagen geplant. Am Freitag soll es wieder ursprünglicher sein, mehr Raum für Betrachtungen einräumen, mehr Ruhe ermöglichen, weniger kommerziell sein. Genau der richtige Rahmen finden Heusler und Klegin, um nicht nur den historischen Film der „Reise zum Mond“ in der Bibliothek Waldmühle zu zeigen, sondern ihn musikalisch neu zu untermalen.
Über Monate flogen zwischen den Büros in der Musikschule an der Winsener Straßen die Kompositionsideen hin und her. Auf einer Liste hakten Heusler und Klegin ab, welchen Filmabschnitt wer vertonen wollte, Igor Strawinsky und Richard Wagner standen Pate. „Zwölf Minuten Musik sind richtig, richtig viel Arbeit.“ Vier, fünf Stunden am Tag arbeiteten beide an der Komposition.
Die Komponisten haben den Film hundertmal gesehen Schwierig war es, die Musikstücke so zu kürzen oder zu verlängern, dass sie zur jeweiligen Szene passten. Mit drei Techniken arbeiteten die Komponisten: So folgten sie einem Leitmotiv, einem musikalisch überspannenden Thema – „auch, wenn im Film alle im Kollektiv immer durcheinander rennen“. Zudem gibt es das sogenannte Mickey-Mousing, eine Technik, bei der das Geschehen auf der Leinwand punktgenau von der Musik begleitet wird, und schließlich die Moon-Technik, bei der eine Szene mit einer musikalischen Grundstimmung untermalt wird. Zudem sollte sich der Musikstil an den Zeitgeist anlehnen, an moderne klassische Musik des 20. Jahrhunderts.
Für die Aufführung greifen Heusler und Klegin auf den Originalfilm zurück, der etwas kürzer ist als die Internetversion. „Ich kenn’ mittlerweile jede Szene im Film.“ 100-mal und öfter hat alleine Heusler den Film gesehen. Am Ende, nach vier Monaten Arbeit, steht nun die Filmmusik in 14 Bildern für 14 Musikerinnen und Musiker auf 90 Partiturseiten.
Kein Klavierknecht, sondern ein Profi-Orchester wird also den Science-Fiction-Klassiker begleiten. Es soll ihn zu einem Hör- und Sehgenuss genau 121 Jahre nach der Uraufführung am 1. September 1902 machen. Und in der Kombination mit der neu komponierten Musik wird die Veranstaltung wohl erneut eine Welturaufführung sein. Zweimal wird der Stummfilm an dem ersten Lichterfest-Abend aufgeführt. Passend dazu gibt es im Anschluss – bei Vollmond und hoffentlich offenem Himmel – einen astronomischen Spaziergang im Böhmepark.
„Georges Méliés hat das Kino damit erfunden“, würdigt Heusler den Regisseur des fantastischen Films über eine Reise zum Mond, die man sich bis dahin nur in seiner Fantasie nach dem Lesen des gleichnamigen Jules-Verne-Klassiker ausmalen konnte. Dank der Leinwand wurde das Individuelle zu einem besonderen gemeinsamen Erlebnis. Dazu trugen pyrotechnische Effekte und Techniken bei, die Méliés, zuvor Zauberkünstler, erfunden hat. „Es war eine absolute Sensation, schauspielerisch aber na ja“, findet Heusler.
Der Musikschulleiter schlägt einen Akkord auf dem Klavier an. Den hat er sich für eine Streitszene überlegt, die auf dem Mond spielt. Erst später fiel ihm auf, so erzählt er, dass der Akkord zwar in anderer Tonlage, aber schon einmal zum Markenzeichen eines Films wurde: für die Duschszene in Psycho. Ob die Lichterfest-Uraufführung ähnlich einprägsam bleiben wird, das kann jeder für sich entscheiden. Zuvor heißt es: einfach kommen, zusehen und vor allem zuhören.
Erster Tag des Lichterfests in Soltau
Das klingt ganz modern, wenn von visuellen Effekten wie der Doppelbelichtung, der Split-Screens oder der Stop-Motion-Technik die Rede ist. Aber schon 1902 setzte Georges Méliés diese Technik ein. Aus dem bis dahin professionellen Zauberkünstler wurde ein gefeierter Regisseur. „Die Reise zum Mond“ war bis dahin die teuerste Filmproduktion, für Méliés aber die erfolgreichste seiner insgesamt 500 Filme. Regisseur Martin Scorsese setzte ihm 2011 mit „Hugo Cabret“ ein Denkmal. Zum Lichterfest, das in diesem Jahr auf zwei Tage aufgeteilt ist, wird der Film mit der Neuvertonung von Jürgen Heusler und Sönke Klegin am Freitag. 1. September, zweimal gezeigt. Die Aufführungen beginnen um 19.30 Uhr und 20.30 Uhr in der Bibliothek Waldmühle. Der Film dauert jeweils 20 Minuten. Das Orchester mit 14 Profimusikerinnen und -musikern wird von Anke Heusler dirigiert. Im musikalischen Intro gibt es eine weitere Reminiszenz an einen großen Film: Eine Hommage an „2001 – Odyssee im Weltraum“. Als Sprecher ist Schauspieler Michael Boltz dabei. Finanziell gefördert wurde das Projekt vom Lüneburgischen Landschaftsverband mit 2100 Euro sowie im gleichen Rahmen von der Stadt Soltau und dem Kulturverein selbst. Ab 21 Uhr bietet der Arbeitskreis Astronomie Handeloh mit seinem Vorsitzenden Achim Tribelhorn einen Spaziergang zum Sterne- und Mondgucken im Böhmepark an. Zwei Teleskope stehen zur Verfügung. Bei schlechtem Wetter soll es eine Vorführung in der Bibliothek geben.