„Die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist"
Zwei Jahre hintereinander, 2020 und 2021, erschütterten Mordanschläge auf Frauen – ein versuchter und ein vollendeter – den Heidekreis. Die juristische Aufarbeitung beider Verbrechen ist kaum abgeschlossen, da kommt ein neuer Fall hinzu. In Bad Fallingbostel erlag am 10. August eine 24-Jährige ihren schweren Stichverletzungen. Als dringend tatverdächtig sitzt ihr 34-Jähriger Ex-Lebensgefährte in Untersuchungshaft.
Erst im Juni bestätigte der BGH die lebenslange Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung gegen Maurice-Leroy G., der im vergangenen Jahr in Bispingen seine Partnerin und deren zwei Kinder ermordete. Nur drei Monate zuvor, am 3. März, hatte ein anderes Verfahren seinen Abschluss gefunden, in dem es ebenfalls um die Gewaltattacke eines Mannes gegen eine Frau ging. Der Wintermoorer Jens M. hatte am 19. August 2020 seine in Trennung begriffene Ehefrau lebensbedrohlich mit einem Fleischermesser verletzt. Die zwölfjährige Haftstrafe der Erstinstanz wegen versuchten Mordes wurde nach einem Hinweis durch den BGH vom Landgericht Lüneburg im Revisionsprozess um vier Jahre und zwei Monate herabgesetzt.
Mit dem Abschluss der juristischen Aufarbeitung beider Verbrechen hätte etwas Ruhe einkehren können. Der jüngste Fall rückt nun aber erneut ein gerne verdrängtes Thema in den Fokus: Laut Kriminalstatistik wird an jedem dritten Tag irgendwo in Deutschland eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners getötet. Seit einigen Jahren werden solche Taten, die strafrechtlich in der Regel einen Mord oder einen Totschlag darstellen, verstärkt mit einem nichtjuristischen Wort bezeichnet: Femizide. Der Begriff soll ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Trennungstötungen und ähnlich gelagerte Frauenmorde oft aus einem ganz bestimmten Denkmuster, aus männlichem Dominanzstreben und Besitzdenken, resultieren. „Ein Femizid ist die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist“, erläutert Yamina Lourghi, Referentin für häusliche und sexualisierte Gewalt bei der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes.
Die Böhme-Zeitung sprach mit Lourghi und wollte wissen: Was muss geschehen, damit die erschreckend hohe Zahl an Femiziden und Trennungstötungen in Deutschland sinkt? Wo gibt es Versäumnisse, wo Beispiele dafür, wie es besser laufen könnte? Die Fragen führten das Gespräch in die deutsche Justiz – und nach Spanien.
Statistisch gesehen wird in Deutschland alle drei Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Oft ist dann von einem Femizid die Rede. Was steckt hinter dem Begriff?
Yamina Lourghi: Ein Femizid ist die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Dahinter steht Verachtung, Frauenhass, der Wunsch nach Kontrolle und ein männlicher Dominanz- und Besitzanspruch. Femizide sind durch hierarchische Geschlechterverhältnisse motiviert. Sie resultieren aus ungleichen Machtstrukturen, in welchen patriarchale Geschlechterrollen oder Denkweisen verwurzelt sind, und Frauen und Mädchen untergeordnet werden.
Woher stammt der Begriff?
Das erste Mal verwendete ihn die US-amerikanischen Soziologin und Feministin Diane Russel 1976 bei einem International Tribunal on Crimes against Women. Sie führte den Begriff in den wissenschaftlichen Diskurs ein und die Weltgesundheitsorganisation griff ihn später auf.
Wann fand er Eingang in die deutsche Sprache?
Der Begriff Femizid wird in Deutschland inzwischen häufiger verwendet, zuletzt auch öffentlich von Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Eine Definition wird von der Bundesregierung aber weiter abgelehnt. Eine bundeseinheitliche Definition wäre jedoch die notwendige Basis, um vergleichbare Daten zu erheben, zu analysieren und so angemessene Maßnahmen zu entwickeln, damit Tötungen von Frauen verhindert werden können.
Es gibt Bestrebungen, Femizide im Strafrecht zu verankern. Dann müssten Gerichte den Begriff auslegen. Wäre damit etwas gewonnen?
Oft wird ein eigener Straftatbestand gefordert. Terre des Femmes ist jedoch der Auffassung, dass die bestehenden Tatbestände bei guter Rechtsanwendungspraxis ausreichen würden, um Femizide angemessen zu bestrafen. Wichtiger als ein neuer Straftatbestand ist daher eine konsequente Rechtsprechung. Außerdem müssen Richter und Richterinnen verpflichtend geschult und sensibilisiert werden. Sie müssen besser Bescheid wissen über Geschlechterstereotypen und Sexualitätsmythen. In der Rechtsanwendungspraxis läuft da noch vieles schief. Das ist auch eine Verpflichtung aus der Istanbul-Konvention. Probleme bestanden bisher auch bei der Strafzumessung. Der Paragraf 46 des Strafgesetzbuches führt Tat-Beweggründe auf, die bei der Strafzumessung besonders ins Gewicht fallen. Ein Hinweis auf geschlechtsspezifische Motive wird nun hinzugefügt, was wir sehr begrüßen. Die Rechtsanwendungspraxis benötigt in einigen Bereichen jedoch dringend Überarbeitungen: Bei sexuellen Übergriffen werten Gerichte es zum Beispiel strafmildernd, wenn vor der Tat bereits eine intime Beziehung zwischen Täter und der betroffenen Frau bestand. Dann wird regelmäßig ein minder schwerer Fall angenommen. Bei sogenannten Trennungstötungen gibt es einen ähnlichen Effekt, wenn das Mordmerkmal des niederen Beweggrundes verneint wird, weil aus Sicht des Gerichts die Trennung den Mann traumatisiert und er aus Verzweiflung getötet habe. Ein entsprechendes BGH-Urteil aus dem Jahr 2008 bringt dem Täter enormes Verständnis entgegen. Das ist fatal und verharmlost die geschlechtsspezifischen, misogynen Strukturen, die insbesondere hinter Trennungstötungen stehen. Daher fordern wir bei Femiziden Strafverschärfungen, insbesondere wenn die Straftat gegen eine frühere oder derzeitige Ehefrau oder Partnerin erfolgt. Gerade in jüngster Zeit beobachten wir, dass sich diesbezüglich endlich etwas verändert. Femizide werden häufiger als Mord abgeurteilt. Dass Täter nicht mehr so leicht mit Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge davonkommen, ist sehr zu begrüßen.
Sollte der Mordparagraf um ein geschlechtsspezifisches Tatbestandsmerkmal erweitert werden, um Femizide zweifelsfrei zu erfassen?
Das wäre wünschenswert. Terre des Femmes fordert daher auch die Kategorisierung in niedere Beweggründe, wenn es eine Trennungsabsicht oder erfolgte Trennung der Frau gab. Um sämtliche Formen von Femiziden zu erfassen und Gewalt an Frauen strukturell und effizient zu bekämpfen, brauchen wir eine zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle auf Bundesebene. Hier könnten alle Informationen zusammenfließen und koordiniert werden, die zur Umsetzung der Istanbul-Konvention notwendig sind.
Gibt es Milieus, in denen sich Femizide besonders häufig ereignen?
Nein. Gewalt gegen Frauen ist ein strukturelles Problem. Prof. Dr. Kristina Wolff, die die Entwicklung der Femizide in Deutschland beobachtet, ermittelte anhand von Fallzahlen, dass immer häufiger auch ältere Frauen über 70 sowie minderjährige Mädchen von Femiziden betroffen sind. Und zwar aus ganz unterschiedlichen Regionen, Kulturkreisen und sozialen Milieus.
Wie kann Deutschland besser werden bei der Prävention?
Im Juni 2022 wurde eine Frau in einem Aldi in Schwalmstadt von ihrem Ex-Partner erschossen. Am Tag zuvor war die Polizei bei der Frau in der Wohnung und sprach einen Platzverweis gegen den Mann aus. Ich habe mir die Frage gestellt, wie dieser Femizid hätte verhindert werden können. Was ist schiefgelaufen? Die Frau hat ihren Ex-Partner angezeigt, die Polizei hat einen Platzverweis ausgesprochen. Nach dem Platzverweis verließ der Mann die Wohnung. Aus Sicht der Polizei war scheinbar keine erhöhte Gefährdung der Frau erkennbar. Wir sollten uns daher unbedingt anschauen, wie in anderen Ländern verfahren wird, etwa in Spanien, neuerdings auch in Österreich. Da guckt man sich die Täter viel gründlicher an und schützt betroffene Frauen sofort in akuten Gefährdungssituationen. Es gibt umfangreiche Fragebögen und es werden Risikoermittlungstools eingesetzt. Anhand einer tiefen Persönlichkeitsanalyse des Mannes wird die tatsächliche Gefährdung der Frau ermittelt. Bei einem erhöhten Risiko belässt man es in Spanien nicht bei einem Platzverweis. Die Frau bekommt 24 Stunden Polizeischutz und der Mann ein GPS-Armband oder eine Fußfessel, um seine Bewegungen zu überwachen. Auch das Sorgerecht für Kinder wird bei Gewaltdelikten gegen die Mutter erst einmal ausgesetzt. Sowas fehlt in Deutschland. Das Thema Gewalt gegen Frauen muss noch stärker raus aus der Tabuzone. Wir benötigen mehr Frauenhausplätze, eine sichere Finanzierung des Hilfesystems und mehr Aufklärungs- und Bildungsarbeit. Wir erleben ja keinen Rückgang bei häuslicher und sexualisierter Gewalt, ganz im Gegenteil: Gewalt an Frauen nimmt exponentiell zu. Die Corona Pandemie hat das zusätzlich befeuert.
Gibt es in in einer Beziehung oder im Verhältnis zu einem Ex-Partner Warnsignale für einen bevorstehenden Gewaltausbruch?
Definitiv. Die Kriminologin Jane Monckton Smith hat dazu ein Acht-Phasen-Modell bis zur Begehung eines Femizids erstellt. Alarmzeichen sind auf jedem Fall zwanghafte, auch digitale Kontrolle, erzwungene soziale Isolierung, Drohungen, sich steigernde psychische, körperliche oder finanzielle Gewalt, Waffen- und Drogenbesitz, Alkoholkonsum und verbalisierte Tötungsgedanken.
Gewarnt wird oft vor einem „letzten klärenden Gespräch“ mit dem toxischen Ex-Partner, denn bei solchen Treffen bestehe ein besonders hohes Risiko.
Das zu pauschalisieren finde ich schwierig. Es stimmt aber, dass bei einigen Tötungsdelikten der vergangenen Jahre genau solch eine Situation vorlag. Wenn sich eine Frau durch eine Trennung aus der häuslichen Gewalt befreit hat, ist sie grundsätzlich immer stark gefährdet, da es bereits im Vorfeld schon Gewalteskalationen gab. Also ja, das letzte sogenannte klärende Gespräch kann dann in Fällen von bereits stark eskalierter häuslicher Gewalt eine Hochrisiko-Situation darstellen. Bei der in Schwalmstadt ermordeten Frau war das ähnlich. Der Ex-Partner bat mehrfach um so ein Gespräch. Sie ließ sich darauf ein, erwiderte aber seine Gefühle nicht und wollte nicht zu ihm zurück. Als sie die Polizei einschaltete, er einen Platzverweis erhielt und sie am nächsten Tag eine Anzeige gegen ihn aufgeben wollte, verfolgte und ermordete er sie. Dieser Fall zeigt uns vor allem, wie schwierig es ist Täter und ihr Gewaltpotential einzuschätzen. Da müssen Ermittlungsbehörden und die Polizei deutlich mehr tun, um Frauen effektiv vor Femiziden zu schützen.