Immer mehr Verfahren wegen Kinderpornografie
Wenn Marc Brüning und seine Kollegen früh morgens an einer Haustür klingeln, wird es für die Bewohner, jedenfalls die männlichen, ungemütlich. Die ungebetenen Gäste lassen sich nicht abwimmeln. Sie kommen in zivil, sind um Diskretion bemüht – doch an den harten Fakten ändert das nichts. Zu vollstrecken ist ein amtsgerichtlicher Durchsuchungsbeschluss wegen eines Verdachts, der Existenzen vernichten kann. Es sind schon Ehen und berufliche Karrieren daran zerbrochen.
Brüning ist Leiter des Sachgebiets Kinderpornografie der Polizeidirektion Heidekreis. Die Abteilung wurde im Oktober eingerichtet, um der wachsenden Bedeutung des Themas im lokalen Kriminalitätsgeschehen Rechnung zu tragen. Vier Beamte beschäftigen sich seitdem ausschließlich mit Ermittlungen im Bereich „KiPo“, wie es im Polizeijargon heißt. „Das ist der richtige Weg“, zeigt sich Kriminalhauptkommissar Dirk Ebel, Leiter des Zentralen Kriminaldienstes, überzeugt davon, dass der globale Kampf gegen Kinderpornografie im Internet auch im Heidekreis forciert und konzentriert werden muss. Jüngste Daten sind in der Tat alarmierend. Die Zahl der bundesweit polizeilich registrierten Straftaten im Zusammenhang mit Kinder- und Jugendpornografie hat sich 2021 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt, sie stieg von knapp 18.800 auf über 39.000 Fälle. „Das holt uns auch hier ein“, sagt Ebel.
Brüning und sein Team mussten seit Oktober bereits rund 50 Mal zu Hausdurchsuchungen im Heidekreis ausrücken. Die Beschuldigten sind alle männlich – ansonsten eint sie wenig. Mal sind es Jugendliche, mal Senioren. Einige sind verheiratete Familienväter. Gut verdienende Akademiker finden sich unter den mutmaßlichen Tätern, ebenso wie Sozialfälle. „Entscheidend ist die Sexualpräferenz“, sagt Brüning. Das Delikt sei nicht an ein bestimmtes soziales Milieu gebunden.
Die eigentliche Arbeit beginnt für die Beamten nach der Hausdurchsuchung. Nun müssen die sichergestellten Datenträger auf strafbares Material hin untersucht werden. Dafür müssen im ersten Schritt häufig Passwörter geknackt werden, was nicht immer gelingt. Zugänglich gemachte Daten werden gesichtet und ausgewertet. Handelt es sich um strafbare Jugendpornografie oder um erwachsene Darsteller, die nur so aussehen und so tun, als seien sie minderjährig? Ist ein aufreizendes Kinderfoto bereits Pornografie im Sinne des Strafgesetzbuches oder gerade noch legal? Befindet sich auf den Datenträgern bislang unbekanntes, frisches Material, das womöglich einen noch andauernden Missbrauch zeigt? Finden sich in Chatverläufen Hinweise auf Tauschpartner?
Es ist eine psychisch belastende Arbeit, für die nicht jeder geeignet ist. „Wir setzen auf Freiwilligkeit“, stellt Ebel klar. Niemand werde gezwungen, sich den teilweise drastischen Bildern, Film- und Tonsequenzen auszusetzen. Teammitgliedern wird eine Supervision angeboten, um Gefühle zu reflektieren und sich selbst zu schützen. Brüning hat viel Erfahrung in diesem Deliktsbereich, er redet mit professioneller Distanz über seine Arbeit, über Opfer und Täter. Doch auch er räumt ein, dass es kein Job wie jeder andere ist, sich tagtäglich mit Darstellungen missbrauchter Kinder auseinandersetzen zu müssen. „Das macht etwas mit einem“, sagt der 41-Jährige, der selbst Vater dreier Kinder ist.
Die gehäuften Fallzahlen im Bereich der Kinderpornografie sind das Resultat internationaler polizeilicher Zusammenarbeit. In den meisten Fällen, in denen Ermittler im Heidekreis auf Beschluss des Amtsgerichts Wohnungen oder Geschäftsräume nach einschlägigem Material durchsuchen, kommt der Hinweis aus den USA. Oft sind es Social-Media-Plattformen, deren Server in den USA stehen, die verdächtige Dateien an die Non-Profit-Organisation International Centre for Missing and Exploited Children (ICMEC) melden. Von dort geht es gegebenenfalls weiter zum FBI, und schließlich landet der Verdachtsfall, wenn er einer in Deutschland registrierten IP-Adresse zugeordnet werden kann, beim örtlich zuständigen Amtsgericht und den lokalen Ermittlungsbehörden.
„Die Plattformbetreiber in den USA sind verpflichtet, jeden Verdachtsfall zu melden“, sagt Dirk Ebel, der Leiter des Zentralen Kriminaldienstes im Heidekreis. So soll es bald auch in der EU vorgeschrieben sein. Laut Experten liegen rund 60 Prozent der weltweit online verfügbaren kinderpornografischen Dateien auf Servern in Europa. Werden die Plattformen in der EU gesetzlich verpflichtet, ihre Angebote aktiv auf verdächtiges Material zu durchsuchen und einschlägige Funde nicht nur zu löschen, sondern auch zu melden, dürften die Fallzahlen im Kampf gegen die Kinderpornografie nochmals steigen, prognostiziert Ebel. „Wir gehen jedem Hinweis nach.“
Ein Verdachtsfall, 20.000 Dateien
Ob es heute mehr Konsumenten als noch vor einigen Jahren gibt, lässt sich angesichts einer großen vermuteten Dunkelziffer schwer sagen. Ein anderer Trend ist dagegen klar festzustellen: „Die gefundenen Datenmengen werden immer größer“, berichtet Ebel. Das habe auch mit der besseren technischen Ausstattung und der digitalen Versiertheit jüngerer Täter zu tun. „Inzwischen bewegen wir uns oft schon im Terabyte-Bereich.“ Die Auswertung so großer Datenmengen sei eine große Herausforderung. Neben den Sachbearbeitern, die das Material in Soltau sichten und auswerten, kommt ein auf das Erkennen bereits polizeibekannter Dateien spezialisiertes Computerprogramm sowie Künstliche Intelligenz (KI) zum Einsatz.
Marc Brüning, Leiter des Sachgebiets Kinderpornografie der Polizeidirektion Heidekreis, kennt das im Netz zirkulierende Material inzwischen wohl besser als mancher Konsument. Es sei nicht immer die ganz harte Ware, die im Heidekreis sichergestellt werde. Stark zunehmend sei etwa der Anteil von Filmen und Bildern, die im Freibad oder bei anderen Gelegenheiten heimlich erstellt werden oder die sogar direkt von den Opfern selbst stammen. Das ist dann oft das Resultat von Cyber-Grooming: Erwachsene manipulieren junge Internetnutzer unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dazu, im Chat intime Bilder zu verschicken oder sich vor der PC-Kamera zu entkleiden. Ein von der Polizei unterstütztes Präventionsteam ist regelmäßig in den Schulen des Heidekreises unterwegs, um Schülerinnen und Schüler über solche im Netz lauernden Gefahren und Fallstricke aufzuklären. Schnell geraten Jugendliche dort auch selbst ungewollt in die Täterrolle, wenn sie kinder-, gewalt- oder tierpornografisches Material verbreiten, ohne sich über die strafrechtliche Relevanz ihres Tuns im Klaren zu sein. „Die sind oft total arglos“, sagt Polizeisprecher Olaf Rothardt, der das Präventionsteam leitet. Kommt es zur Hausdurchsuchung, kann das für Jugendliche sehr belastend sein, außerdem wird das Smartphone als Tatmittel vernichtet.
„Das Delikt ist im Heidekreis häufig"
Bei Jugendlichen wird in der Regel nur wenig Material gefunden. Ganz anders bei den meisten erwachsenen Beschuldigten. „In einem aktuellen Fall geht es um mehr als 20.000 Dateien“, berichtet der Soltauer Strafverteidiger Frank Speer. Er bekommt die steigende Zahl von Kinderpornografie-Verfahren in seiner Kanzlei deutlich zu spüren. „Das Delikt ist im Heidekreis häufig“, lautet sein Fazit. Aber nicht nur dort: In der Staatsanwaltschaft Hannover wurde eigens eine Fachstelle eingerichtet, die für Ermittlungsverfahren im Bereich Kinderpornografie zentral zuständig ist. Trotzdem kommen die Strafverfolgungsbehörden kaum hinterher, berichtet Speer aus der Rechtspraxis. „Inzwischen sind Verfahrensdauern von mehr als einem Jahr üblich.“ In einem Fall warte der Jurist seit Februar 2021 allein darauf, Akteneinsicht zu bekommen. Wann Anklage erhoben wird, ist offen.