„Man sollte wissen, worüber man redet“
Militärhistoriker Ralf Raths ist seit 2013 Direktor des Deutschen Panzermuseums in Munster. Ein BZ-Gespräch über Panzer, Krieg und Twitter.
Herr Raths, Panzer waren lange ein Nischenthema für Soldaten, Militärhistoriker, Technikfreaks. Jetzt redet das ganze Land über sie, das Medieninteresse am Deutschen Panzermuseum ist enorm. Haben Sie Vergleichbares schon mal erlebt?
Ralf Raths: Ich erinnere mich an ein gewisses gesteigertes Interesse in den Jahren 2010 und 2011, als es darum ging, ob man in Afghanistan von einem Krieg sprechen sollte. Das war aber eine eher militärphilosophische Diskussion, die wurde immer noch vor allem in der von Ihnen beschriebenen Bubble geführt. Auch rund um die Annexion der Krim 2014 und den Folgekonflikt im Donbass blieb das so. Wir versuchten, auf die Relevanz der Ereignisse hinzuweisen, wählten für ein Forschungsprojekt zu Gewaltbildern einen im Donbass abgeschossenen Panzer als ein Motiv. Wir machten auf die russischen Panzerbestände aus Sowjetzeiten aufmerksam. Die Öffentlichkeit interessierte sich aber nicht sonderlich dafür.
Das hat sich gewandelt, seit klar ist, dass Deutschland schweres Kriegsgerät liefern wird. Zugesagt sind 50 Gepard-Luftabwehrpanzer und sieben Panzerhaubitzen 2000. Die Ukraine hat das massiv eingefordert. Warum sind Panzer aus Deutschland so wichtig für das Land?
Grundsätzlich braucht die Ukraine im Moment einfach alles. Die Angst vor weiterer russischer Mobilmachung ist ja nicht unbegründet. Noch ist es ein begrenzter Krieg, Russland nutzt nicht sein volles Potenzial. Mit dem im Westen bespöttelten Begriff „Spezialoperation“ drückt Russland genau das aus. Die Ukrainer verstehen das. Und sie wissen: Je mehr Material sie haben, desto länger können sie durchhalten. Möglichst solange, bis eine Verhandlungssituation entsteht, in die sie sich dann aus einer Position der relativen Stärke, oder wenigstens nicht der absoluten Schwäche, begeben können. Die besondere Relevanz der deutschen Geparden liegt für die Ukrainer darin, dass sie hoffen, mit ihnen eine Fähigkeitslücke in der Flugabwehr zu schließen. Feindliche Objekte vom Himmel holen zu können, ist für sie extrem wichtig. Die Bedienung des Gepards ist aber sehr komplex. Er war im Kalten Krieg das Kampfgerät mit der längsten Ausbildungszeit. Die Sprachbarriere und unterschiedliche Alphabete machen es nicht einfacher. Hinzu kommt, dass das System unter extremen Stress sehr schnell bedient werden muss. Die Durchgangszeit eines Kampfjets ist minimal. Lieferungen wegen der Komplexität, die auch Wartungsprobleme mit sich bringt, zu verweigern, wäre dennoch falsch. Ein Panzer ist immer besser als kein Panzer. Selbst wenn er nur zwei Tage im Einsatz ist und dann ausfällt, weil nicht optimal am Gerät ausgebildete Soldaten keine Reparaturen ausführen können.
Wie lange dauert die zwingend notwendige Minimal-Ausbildung am Gepard?
Um einen Panzer durch Drill einigermaßen stresssicher bedienen zu können, benötigt man schon beim Marder oder Leopard mindestens 25 bis 30 Ausbildungstage. Beim Gepard braucht man eher doppelt solange. Das macht den Export aber nicht sinnlos. Zu Kriegsbeginn haben viele nicht damit gerechnet, dass die ukrainische Armee überhaupt solange durchhält. Die Ukrainer werden voraussichtlich auch in zwei Monaten noch kämpfen, und bis dahin noch mehr Material verbraucht haben. Wichtig ist, dass die Gepard-Ausbildung nun schnell beginnt.
Ist der Gepard eine Defensivwaffe?
Der Begriff Defensivwaffe ist Unsinn, in die Welt gesetzt von Politikern. Ähnlich wie das Wort Panzerabwehrwaffe. Im Englischen heißt sie schlicht anti-tank: „gegen Panzer“. Auch eine vorrückende Infanterie-Kompanie wird, um Panzer der Verteidiger abzuschießen, durch Panzerabwehrwaffen unterstützt. Es kommt immer darauf an, wofür man eine Waffe einsetzt.
Wodurch unterscheiden sich die Panzerhaubitzen 2000 vom Gepard?
Als klassische Artillerie erfüllen sie eine völlig andere Aufgabe. Sie stehen hinter der eigenen Truppe und schießen idealerweise über diese hinweg, um mit Einschlägen an der Front zu unterstützen. Haubitzen schießen bis zu 50 Kilometer weit.
In der Politik gibt es eine breite Mehrheit für Panzerlieferungen, die Bevölkerung ist dagegen gespalten. Wie erleben Sie die Debatte? Kann das DPM Orientierung liefern, hat es eine Position?
Zur politischen Grundsatzfrage, ob gerade jetzt Panzer geliefert werden sollten, bezieht das Museum keine Position. Das ist zu tagesaktuell. Was wir zur Debatte beitragen können, auch durch Gespräche wie dieses, ist Aufklärung. Was macht die Panzerartillerie eigentlich? Gibt es Verteidigungswaffen? Was ist der Job vom Gepard? Wenn ein Ex-General im TV sagt, Geparden sollten nicht geliefert werden, weil deren Bedienung zu kompliziert sei, können wir erklären, was damit gemeint ist. Das ist das eine. Das zweite ist, dass wir historische Vergleiche anbieten können. Wenn im offenen Brief an die Bundesregierung steht, die Ukraine habe gegen Russland sowieso keine Chance, verweisen wir auf Afghanistan und Vietnam. Schließlich können wir unseren Besuchern auch zeigen, was es heißt, im Panzer zu kämpfen. Von den Lehnstuhl-Generälen, die jetzt überall über Panzerlieferungen schwadronieren, haben die wenigsten eine Vorstellung davon. Das alte Klischee, dass Soldaten diejenigen sind, die am dringendsten den Frieden wollen, gewinnt neue Relevanz, wenn man weiß, was ein Treffer im Panzer bedeutet und wie kurz die Überlebensdauer von Panzern im Gefechtsfeld der Kriege war. Wer sich damit beschäftigt, ist nicht mehr so schnell dazu bereit, Panzer-Exporte einzufordern. Man kann sie für notwendig halten, im Fall der Ukraine teile ich diese Überzeugung. Aber man sollte wissen, worüber man redet.
Kann die Ukraine den Krieg gewinnen? Ist das womöglich sogar wahrscheinlich?
Wahrscheinlich ist das nicht. Aber absolut möglich. Es gibt genügend Beispiele, in denen Underdogs es durch langes Durchhalten geschafft haben, den übermächtigen Gegner so in die politische oder soziale Bredouille zu bringen, das der am Ende aufgibt.
Manche befürchten den Einsatz von Atomwaffen. Verfügt Russland über taktische nukleare Waffen, die in einem Krieg wie diesem militärisch sinnvoll eingesetzt werden könnten?
Ihre Einschränkung ist wichtig. Strategische Atomwaffen einzusetzen, den berühmten Roten Knopf zu drücken, wäre Wahnsinn. Für diese Waffen gibt es für Putin momentan jenseits von Superschurkenfantasien keine sinnvollen Einsatzmöglichkeiten. Russland verfügt daneben aber über taktische Nuklearwaffen und auch chemische Waffen aus sowjetischen Beständen. Das sind zunächst einmal besonders schwere Artilleriewaffen, deren Einsatz immer eine Option ist. Lokale Verstrahlung ist eher ein Folgeproblem. Doch zurück zur Einschränkung der Frage, zur Sinnhaftigkeit. Diese Waffen funktionieren, haben aber so viele Nachteile, dass ihr Einsatz eigentlich nie sinnvoll ist. Warum ein Gebiet verseuchen, das man erobern will? Die Waffen waren immer eher für den defensiven Einsatz gedacht, um vorrückende Truppen zu stoppen oder um in den riesigen Schlachten eines Dritten Weltkrieges unter höchstem Druck Löcher in die Front zu schlagen. So eine Situation sehe ich in der Ukraine nicht. Würde Russland Nuklearwaffen einsetzen, wäre das Land zudem endgültig geächtet. Die Kosten-Nutzen-Rechnung fällt momentan eindeutig so aus, dass ich kein Szenario sehe, in dem sich Russland für den Einsatz nuklearer oder chemischer Waffen in der Ukraine entscheiden wird.
Bei historischen Vergleichen ist jetzt oft der Zweite Weltkrieg die Referenz. Die Kriegsbilder aus der Ukraine haben wenig gemein mit der präzis-kalten Ästhetik der digitalen Bilder aus dem zweiten Golfkrieg. Haben wir es mit einem konventionellen Panzerkrieg zu tun, vergleichbar mit den Schlachten des Weltkriegs?
Nein. In der Ukraine treffen keine riesigen Panzerflotten aufeinander. Der Krieg ist auf taktisch-operativer Ebene sehr aufgelockert. Es sind kleine Einheiten, sogar einzelne Panzer unterwegs. Die verschiedenen russischen Truppengattungen sprechen sich untereinander nicht gut ab. Bild-historisch interessant ist übrigens, dass der einzige große Krieg, von dem die Presse wirklich frei berichten konnte, ausgerechnet der Vietnamkrieg gewesen ist. Der produzierte ganz ähnliche Bilder von zerschossenen Fahrzeugen und toten Menschen, wie wir sie jetzt auch sehen. Die Demokratisierung der Bildproduktion und die sofortige Verbreitung sind aber neu. Uns ist wichtig, Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man auf Twitter Menschen beim Sterben zusieht, wenn man sich Abschüsse anguckt. Es ist ein Problem, dass immer die Maschine, nie der Mensch im Inneren des Panzers oder Flugzeugs gesehen wird. Oft gepostet werden zum Beispiel Aufnahmen von Panzern, die von Brücken in Flüsse stürzen. Darüber werden gern Witze gemacht. Auf dem ersten Blick sieht das ja auch lustig aus. Aber in Panzern ertrinkt man schnell, so ein Tod ist ein Albtraum. Dass das gar nicht reflektiert wird, trifft mich ehrlich gesagt schon sehr.
Vermitteln uns die direkten Bilder einen authentischen Eindruck vom Krieg?
Überhaupt nicht. Das ist ein Informationskrieg, und den gewinnen die Ukrainer gerade komplett. Sie liegen in den sozialen Medien überall vorn. Das hätten wir anders erwartet, nachdem soviel über den Cyberkrieg der Russen und die Putin-Trolle berichtet wurde. Bei den Bildern muss man stets vorsichtig sein. Vieles ist geschnitten und bearbeitet. Dass die Ukrainer davon mehr verstehen als die Russen, zeigt sich auch an ihren Tik-Tokerinnen. Die setzen sich in erbeutete russische Panzer und drehen echte Tik-Tok-Videos, mit Musik und allem drum und dran. Frauen, die zeigen, wie man Panzer fährt. Medienstrategisch ist das absoluter Goldstandard. Aber wir lernen daraus nichts über den Krieg, wie sollten wir?
Oft verbreitet werden auch Filmaufnahmen von angeblich explodierenden russischen Panzern.
Die sind real. Wobei die Ukraine die gleichen Modelle hat. Die explodieren auch, nur davon gibt es keine Bilder. Grund ist der Jack-in-the-Box-Effekt, zu deutsch Springteufel-Effekt. Alle Kampfpanzer, die in der Ukraine rumfahren, gehen auf das sowjetische Modell T-64 zurück. Eine der Besonderheiten des T-64 war sein eingebauter Ladeautomat. Durch ihn entfiel die Position des stehenden Lade- schützen, sodass der Panzer flacher wurde. Die Munition wird in einem Karussell unter dem Turm gelagert. Darüber sitzen die beiden Turmsoldaten. Wird der Panzer getroffen und detoniert die Munition, sucht sich der Druck den leichtesten Weg – nach oben. Dann fliegt der Turm weg.
Die prominenten Unterzeichner des offenen Briefs gegen Waffenexporte in die Ukraine befinden sich überwiegend im Rentenalter Gehen Jüngere unbefangener mit den Themen Militär und Krieg um?
Das finden wir seit Jahren bestätigt. Die dritte Generation nach dem Zweiten Weltkrieg, zu der auch ich gehöre, tickt anders als die beiden zuvor. Vertreter der Tätergeneration gibt es kaum noch. Deren Kinder haben sich an ihnen abgearbeitet, das ist die Generation Ströbele, Schwarzer und Co. Die meisten unserer Gäste sind zwischen 30 und 40 Jahre alt, oft bringen die noch ihre Kinder mit. Das sind die Enkel und Urenkel der Täter, die tragen das nicht mehr als emotionales Gepäck mit sich herum. In der Gedenkstätten-Arbeit mit jungen Menschen sprechen wir nicht über Schuld, denn die haben sie einfach nicht. Aber sie tragen Verantwortung. Ähnlich ist es mit der Militärgeschichte. Die betrifft einen nicht mehr, aber man sollte sich dafür interessieren. In Deutschland gehört Verantwortung zur Erinnerung dazu.
Wird sich der Ukrainekrieg direkt auf das Panzermuseum auswirken?
Ich denke schon. Digital haben wir das bereits gesehen. Ich habe eine Reihe mit kurzen Ukraine-Videos gemacht, gar nichts Großes, aber die sind eingeschlagen wie keine von uns produzierten Videos jemals zuvor. Normalerweise bekommen wir für Videos, die keinen Panzer zum Thema haben, so etwa 20.000 bis 50.000 Aufrufe, was für ein Museum schon echt viel ist. Die Ukraine-Videos aber haben allesamt jeweils eine Viertel- bis halbe Million Klicks bekommen. Sie haben uns 12.000 zusätzliche Abos eingebracht. Dadurch wurden wir das erste deutsche Museum mit mehr als 100.000 Youtube-Abonnenten. Bei den Besucherzahlen lassen sich noch keine quantitativen Angaben machen. Aber qualitativ hat sich bereits etwas verändert. Es werden andere Fragen gestellt. Auch von Frauen. Die sind immer noch oft als Begleiterinnen ihrer Männer im Museum, aber sie haben jetzt häufiger eigene Fragen, oft mit aktuellen Bezügen. Und wir merken natürlich, dass sich die Presse jetzt viel mehr für uns interessiert. Das ist der schiere Wahnsinn. Wir waren in den Tagesthemen und sind bald auch im gedruckten Spiegel. Das sind Dimensionen, die es vorher nicht gab. Das wird auch wieder vorbeigehen. Aber ganz ehrlich: Wenn es schon diesen Scheißkrieg gibt, dann bin ich froh, dass unser Thema durch ihn wenigstens etwas mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhält. Dafür schäme ich mich nicht.