Keine aufsuchende Hilfe für Obdachlose
Die Waldstraße in Munster wirkt so, wie es ihr Name vermuten lässt. Gepflegte Häuser und Gärten, Vogelgezwitscher in der Luft. Ein Anwohner kniet im Gras und trimmt die akkurate Rasenkante. „Ja, das ist sie“, bestätigt er. Die Frage ist fast überflüssig. Auch ohne sichtbare Hausnummer besteht kaum ein Zweifel daran, dass es sich beim versetzt stehenden kleinen Gebäudeensemble schräg gegenüber um Munsters Obdachlosenunterkunft handelt. Während auf dem Nachbargrundstück gerade schmucke neue Einzelhäuser entstehen, bröckelt dort der Putz.
"Leidlich umgebaute Ställe"
Im Januar ereignete sich in der Unterkunft ein tragischer Vorfall. Eine psychisch kranke Bewohnerin ging mit einem Messer auf einen Mitbewohner los und verletzte ihn lebensbedrohlich. Im Prozess vor dem Lüneburger Landgericht kamen erhebliche Unterbringungsmängel zur Sprache. Der Vorsitzende Richter Franz Kompisch stellte der Stadt als Betreiberin ein schlechtes Zeugnis aus, sprach mit Blick auf Tatortfotos von „leidlich umgebauten Ställen, in denen Menschen gehalten werden“ („41-Jährige nicht schuldfähig", BZ vom 16. Juli).
Bewohner bleiben sich selbst überlassen
Umgebaute Ställe seien es nicht, aber „Unterkünfte einfachster Ausstattung“, sagt Pastorin Meike Müller-Bilgenroth, die oft mit Bewohnern zu tun hat. Der schäbige Gesamteindruck und die schlichte Einrichtung ohne Geschlechtertrennung und mit ausgelagerten Gemeinschaftsduschen sei aber nicht das Hauptproblem. „Es mangelt an aufsuchender Hilfe“, klagt Müller-Bilgenroth. Bewohner blieben sich selbst überlassen. Auch solche, die in einer Obdachlosenunterkunft eigentlich falsch untergebracht sind, etwa weil sie aufgrund psychischer Erkrankung eine Gefahr darstellen.
Bei der Stadt dementiert man die Schäbigkeit der Einrichtung nur halbherzig. „Es handelt sich um eine Notunterkunft“, betont Bürgermeisterin Christina Fleckenstein. Dauerhaftes Wohnen sei dort nicht vorgesehen. Trotzdem blieben manche Menschen lange in der Einrichtung hängen, räumt sie ein. Das Opfer der Messerattacke kannte sie persönlich. „Ich war erschüttert, als ich davon erfuhr.“
Stadt beschäftigt keinen Sozialarbeiter
Hätte die Tat verhindert werden können? Die Frau hatte sich mehrmals mit Schreiben, aus denen ihre angeschlagene psychische Verfassung ersichtlich wurde, an die Verwaltung gewendet. „Wir haben das an die Polizei weitergeleitet“, sagt Fleckenstein. Zudem habe die Stadt beim Amtsgericht eine Betreuung angeregt, die auch angeordnet wurde. „Wir haben das in unserer Zuständigkeit liegende getan“, resümiert die Rathauschefin. Die Stadt sei nicht in der Lage, einen eigenen Sozialarbeiter zu beschäftigen. Aufsuchende Hilfe bleibe dennoch ein Ziel, allerdings auf Kreisebene. „Da laufen Gespräche“, so Fleckenstein.
Die Messerattacke am 12. Januar in der Munsteraner Notunterkunft kam nicht aus heiterem Himmel. Im Strafprozess wurde deutlich, dass von der Angeklagten im Vorfeld zahlreiche Signale ausgegangen sind, die auf eine Eskalationsspirale hindeuteten. Sie fühlte sich zunehmend bedrängt und bedroht. Eine bipolare Persönlichkeitsstörung wurde bei der Frau bereits 2018 diagnostiziert und laut Gerichtsgutachter nie angemessen behandelt. Dieses und weitere Versäumnisse haben letztlich zur Tat geführt, bei der die 41-Jährige sich in einem Zustand der Schuldunfähigkeit befand.