Per Rad den Wölfen auf der Spur
„Ihr müsst jetzt wirklich sehr aufmerksam sein, wo ihr eure Füße hinsetzt“, Förster Volker Einhorns Stimme ist eindringlich, denn mit einem falschen Tritt können einzigartige Spuren verloren gehen. Aufmerksam, bedächtig ihre Schritte setzend, den Blick auf den feuchten Waldboden gerichtet, suchen die 16 Mädchen und Jungen der 3. und 4. Klasse nach den Spuren eines speziellen Waldbewohners. Weiße Fähnchen markieren die Funde. Immer wieder gibt es Berichte, dass Wanderer ihn hier gesehen haben wollen. Aber werden die Kinder heute mit eigenen Augen Beweise finden, dass tatsächlich Wölfe im Wald östlich von Munster heimisch geworden sind?
23 Rudel und 13 Paare in Niedersachsen
Wölfe polarisieren. Die einen sind von ihnen fasziniert, Umwelt- und Naturschutzverbände kämpfen für ihren Schutz. Bei anderen lösen sie Ängste und Ablehnung aus, besonders Schäfer fürchten Risse ihrer Schafe und damit auch wirtschaftliche Verluste. Lange Zeit gab es in vielen Teilen Europas überhaupt keine Wölfe. Über 150 Jahre war der europäische Grauwolf in Deutschland vom Menschen ausgerottet bis er vor über 15 Jahren von Polen über die Lausitz allmählich wieder einwanderte. In einer Nacht können Wölfe 70 bis 75 Kilometer laufen - eine Strecke von Uelzen nach Munster und wieder zurück, berichtet Kruse den Kindern. „Manche Leute erzählen, sie wären mit LKWs hergebracht und ausgesetzt worden, aber das stimmt nicht.“ Nach den Monitoring-Berichten leben heute wieder 23 Rudel und 13 Paare in Niedersachsen. Nicht wenige davon hier im Nordosten. Heißt für die Tour: Eine Wolfsfährte aufzuspüren, ist für die Kinder also durchaus wahrscheinlich. Aber auch heute hört jedes Kind noch immer Märchen wie von Rotkäppchen, in denen der Wolf vor allem als böser Antagonist auftritt, obwohl ihre Darstellung wenig mit ihrer Lebensweise zu tun hat. Mit der Radtour auf den Spuren der Wölfe können die Kinder dem Wildtier aus einer neuen Perspektive begegnen.
Los geht es am Parkplatz „Blauer Waldpfad“ in Lintzel, im Landkreis Uelzen, gut 15 Kilometer östlich von Munster. Für die Waldpädagogen und Wolfsberater Ulrike Kruse und Einhorn ist es das erste Mal, dass sie in ihrem jährlichen Ferienprogramm eine Tour auf dem Rad anbieten. Als ehemals zuständiger Förster kennt Einhorn den Wald um Lintzel gut und hat sich die Route überlegt. Auf so einer Tour geht aber nichts ohne Regeln: Kein Klingeln, Kruse gibt das Tempo vor, Einhorn und sein Hund Barak bildet das Schlusslicht. Es gilt einen 1,5 Meter Abstand zum vorderen Fahrer einzuhalten - nicht wegen Corona diesmal, sondern damit die Kinder Reaktionszeit haben, um abzubremsen, statt einander aufzufahren. Mit Fahrrad und Helm, einem Rucksack mit Würstchen, Wasser, Sitzkissen und Outdoorbekleidung ausgerüstet, kann das kleine Herbstferien-Abenteuer starten.
Wie der Wolf vom Hund zu unterscheiden ist
Die neun- bis zehnjährigen Schüler fahren in Zweierreihe tiefer in den herbstlichen Wald. Sie sind aufgeregt, was dieser Tag bringen wird. Werden sie einen guten Fund machen? Auf eine Überraschung freut sich Jägerin Ulrike Kruse schon, aber noch wird nichts verraten. Ein Pfiff von Einhorn heißt: In Kürze halten wir an. Nach etwa zwei Kilometern hält die Gruppe als erstes auf einer Wegkreuzung. Schließlich soll es ja auf Spurensuche gehen. Dafür braucht es Hintergrundwissen. Kruse und Einhorn fangen bei den Äußerlichkeiten an - wie sieht ein Wolf überhaupt aus? Weiß, grau und braun - lautet die erste Antwort auf Kruses Frage. Einhorn hat ein Wolfsfell mitgebracht, das jetzt im Halbkreis weitergegeben wird. Eine Hand nach der anderen streicht durch das so gar nicht nur graue Fell. Hinzu kommt eine Vielfalt an Brauntönen und Strähnen in gold. Allein ein einzelnes Haar weist einen Verlauf von oben hell, in der Mitte schwarz und unten rötlich braun auf. Optisch ähneln Wölfe großen Haushunden. Im Vergleich zum Hund erkennt man einen Wolf aber an der Kombination aus schwarzer Schwanzspitze, einem dunklen Sattelfleck und hellen Backen, gelblich-grünen Augen und den kleineren Ohren, die innen beharrt sind.
Und wie leben Wölfe eigentlich? Ähnlich wie wir Menschen leben sie in Familienverbänden zusammen. Ein Rudel besteht aus zwei Elternteilen, den Ein- bis Zweijährigen und den Welpen. Mit zwei Jahren verlassen junge Wölfe ihr Rudel, um in einem anderen Gebiet ein neues zu gründen. Denn ein Wolfsrudel darf nicht zu groß werden. Sonst bleibt nicht genug Nahrung für alle. Wölfe waren einst eine der weitest verbreiteten Säugetierarten, bis sie aus vielen Regionen völlig verschwanden. Dank strengem Schutz erholt sich der Bestand seit 30 Jahren allmählich.
Nach einem kleinem Spiel zur Auflockerung geht es wieder aufs Rad. Hin zu einer Lichtung auf der Einhorn erst die Woche zuvor die Fährte eines Wolfes entdeckt hatte. Wieder ein Pfiff. Absteigen und Räder am Wegesrand abstellen. Einhorn und Kruse verteilen Fähnchen in weiß und rot. „Bitte nicht durcheinander rennen“ Kruse leitet ihre Gruppe nach links, Einhorn nach rechts. Ob sie heute auch Glück haben werden? In den Fahrspuren ist der Boden noch feucht vom Regen - das sind gute Bedingungen. Gleich nach den ersten Schritten hat die Gruppe um Kruse Erfolg. Deutlich zeichnen sich die Pfotenabdrücke auf dem weichen Boden ab. Fähnchen um Fähnchen werden gesteckt. Auch die Gruppe um Einhorn hat Glück. Neben Pfotenabdrücken finden sie eine Kratzstelle im Unterholz. Wölfe nutzen erhöhte Stellen auf Lichtungen wie dieser, um mit Urin oder Kot ihr Revier zu markieren. Das Kratzen verstärkt die Wirkung.
Das energiesparende Schnüren der Wölfe
Gemeinsam werden die Funde ausgewertet. Um auszuschließen, dass die Abdrücke nicht von Hunden stammen, checken Einhorn und Kruse die Form und lassen die Kinder die Länge messen. Vorsichtig, um die Spur nicht zu verwischen, halten sie den Zollstock an jeden einzelnen Abdruck und lesen ab - 9,5 Zentimeter, 10 Zentimeter - ohne Kralle. Alle sind oval, die eines Hundes wären eher rund. „Es sind Spuren von zwei Wölfen, die vor ein bis zwei Tagen hier lang gelaufen sind“, ordnet Einhorn die Fährte ein. Auch ihr Gang unterscheidet sich von dem eines Hundes - sie treten mit den hinteren Pfoten in die Abdrücke der Vorderen. Warum machen sie das? Um so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen? Nein. Sie sparen Energie, so wie wir bei tiefem Schnee die vorhandenen Abdrücke nutzen. Diese Gangart nennt sich geschnürter Trapp. Hunde können den Schritt zwar auch, aber brauchen ihn meist nicht. Außer in schwierigem Gelände bei der Jagd.
Es wird Zeit fürs Mittagessen. Einer nach dem Anderen schiebt sein Fahrrad auf dem grünen Streifen an den zuvor gefundenen Spuren vorbei. Sie sollen für weitere Touren erhalten bleiben. Schließlich steigen alle wieder auf ihr Rad. Den goldenen Oktober kann man hier trotz fehlender Sonne erahnen. Buchen in leuchtendem gelb und orange säumen den Weg. Die Spurensuchern treten kräftig in die Pedalen. So langsam knurrt allen der Magen. Bänke aus Holz umringen den Steinkreis für das Lagerfeuer. Aus einem Wagen holen Einhorn und die Kinder Holzscheite. Mit dem kleinen Feuer wird es gemütlich.„Essensreste sollten besser nicht zurück bleiben“ sagt Kruse. Das sei auf einem Truppenplatz passiert. Das dort lebende Wolfsrudel habe die weggeworfenen Pausenbrote mit Mensch gleich „hier gibt es Futter“ verbunden und bettelte an vorbeifahrenden Autos, wie Einhorn selbst erlebt hatte.
Wolf auf Distanz halten, kann jedes Kind lernen
Einigen Kindern wird zwischendurch etwas mulmig und meinen einen Wolf zwischen den Stämmen entdeckt zu haben. Kruse lacht und meint: „Kinderlärm schreckt die Wölfe ab. Ihr braucht euch da keine Gedanken machen.“ Begegnungen mit Spaziergängern seien aber schon vorgekommen. Aber wie verhält man sich da richtig? Groß machen und laut brüllen, das wissen die Kinder bereits. „Die Jacke ausziehen und mit ihr wedeln“ ergänzt Kruse die Liste. "Auf keinen Fall weglaufen!“ Da laufen Wolf wie Hund hinterher. Im Zweifel kann es helfen, langsam rückwärts wegzugehen. „Hört auf euer Bauchgefühl. Angst ist ein wichtiges Gefühl, auf das ihr hören solltet. Nicht in Panik geraten, aber es auch nicht unterdrücken.“
Gestärkt geht es auf den Rädern zurück. Auf Einhorns Pfiff heißt es wieder anhalten und absteigen. An dieser Stelle haben Kruse und Einhorn vor ein paar Tagen zwei Wildkameras aufgehängt. Nun sind alle auf das Ergebnis gespannt. Kruse und Einhorn halten jeweils einen Laptop hoch und blättern durch die Bilder. Bereits auf dem ersten ist ein Wolf zu sehen. Es folgen zwei weitere. In der Nacht des 24. Oktobers, zwei Tage vor der Tour, nahm eine der Kameras drei Wölfe gleichzeitig auf. Die Kinder sind begeistert. Kruse und Einhorn ebenso. „Da ist immer eine gute Portion Glück dabei.“ Die Ausbeute der anderen Kamera ist geringer. Ein paar Nachtaufnahmen und ein Schatten von einem Wolf.
Erschöpft aber begeistert von ihren Funden und Beobachtungen kehren die Mädchen und Jungen mit ihren Begleitern zurück. Beim nächsten Spaziergang können sie ihrer Familie zeigen, wie man auf Spurensuche geht.