Langemark: Biografiearbeit ist für Volkstrauertag der Schlüssel"
Nach der Volkstrauer ist vor der Volkstrauer, daher bringen wir an dieser Stelle noch einmal ein Interview zur Frage, wie man nachwachsende Generationen gewinnen kann.
Die Höhe 80 war im Ersten Weltkrieg eine militärische Stellung an der Westfront. Wie viele Soldaten hier während des vierjährigen Grabenkriegs ihr Leben ließen, wissen selbst die Historiker nicht. Ein Ausgrabungsprojekt hat 2018 menschliche Überreste aus der Erde geborgen. Im Oktober 2019 wurden in Flandern die sterblichen Überreste von 84 Gefallenen in Pappsärgen eingebettet, geschmückt mit einer schwarz-rot-goldenen Bordüre und einer weißen Rose. Der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, General a.D. Wolfgang Schneiderhan, sprach am Rande der Zeremonie auf dem Kriegsgräberfriedhof Langemark mit der BZ über das schwindende Bewusstsein für den Krieg und seine Folgen.
Wenden sich noch viele Menschen an den Volksbund? Wolfgang Schneiderhan: Uns erreichen immer noch rund 20 000 Nachfragen jährlich. Wir versuchen den Verbleib der Vermissten für die Angehörigen in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv herauszufinden, so gut wie wir eben können. Es gibt zudem die Aktion „Toter sucht Angehöriger“, wenn wir jemanden identifizieren konnten, aber noch keine Angehörigen dazu haben. Wir betreuen die Angehörigen – das geht bis dahin, dass wir am Todestag des Gefallenen ein Blumengebinde am Grab niederlegen. Die Angehörigen bekommen davon ein Foto – ein Angebot, das angenommen wird.
Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft wagen: Wie gehen Sie mit abnehmenden Mitgliederzahlen um?
Da haben wir in der Tat ein Problem, das wir aber mit vielen Institutionen, Vereinen und Feuerwehren teilen. Junge Menschen sind projekt- und eventorientiert zu gewinnen, aber sie binden sich nicht. Sie denken an Karriere, Familie, die Finanzierung des Hauses, bevor sie sich an einen Verein binden. Das durchschnittliche Eintrittsalter beim Volksbund liegt bei 52 Jahren, das ist genau die Enkelgeneration.
Da muss man ja auch vorausblicken...
Sie legen den Finger in die Wunde – Nachhaltigkeit und Breitenwirkung. Wir haben zwar Aufwind bekommen durch 100 Jahre Erster Weltkrieg und durch 100 Jahre Volksbund – aber das müssen wir jetzt auch nutzen. Der Volksbund ist im Inland am Volkstrauertag in der Breite sichtbar.
Wer nimmt daran noch teil?
Das hängt auch vom Bewusstsein in der jeweiligen Gemeinde ab. In meiner Gemeinde kommt der Reservistenverband, ältere Haudegen und einfache Menschen – aber die klassischen Nadelstreiefenträger, also Ärzte, Apotheker, Oberstudienräte, Rechtsanwälte fehlen da eher.
Woran liegt das?
Es ist vor allem eine gewisse Gleichgültigkeit. Es tut einem natürlich als Vertreter des Volksbundes ein bisschen weh, aber als wir im vergangenen Jahr im Bundestag unser Fußballprojekt vorgestellt haben, kam ein Bundestagsabgeordneter zu mir, der seit acht Jahren im Parlament sitzt, und sagte: „Ich wusste gar nicht, was ihr Tolles macht.“ Es gibt viel Unwissenheit – das frustriert einen schon.
Wie gewinnt man eine Generation, die den Krieg nicht mehr kennt, für die diese Gefahr abstrakt ist?
Der Weg geht über Biografiearbeit. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben Fußballvereine angefragt und sie auf ihre im Ersten Weltkrieg gefallenen Spieler angesprochen. Hertha BSC, Schalke, Southhampton, Liverpool, St. Etienne, Warcoing und andere haben an dem Projekt „Anstoß für den Frieden“ mitgewirkt.
Wie sah das Projekt konkret aus?
Die Vereine haben miteinander Fußball gespielt und die Lebensläufe ihrer vor 100 Jahren gefallenen Vereinskameraden recherchiert und sich damit auseinandergesetzt, teilweise haben sie Briefe an die Gefallenen geschrieben. Das haben sie dann in der Gedenkstunde zum Volkstrauertag im Deutschen Bundestag vorgestellt.
Es geht also um den Menschen hinter dem abstrakten Toten.
Ja, das Schicksal der gefallenen Vereinskollegen wird so aus der Anonymität herausgearbeitet. Was mich fasziniert hat, war auch ein Projekt der holländischen Kriegsgräberorganisation zu deren Gedenktag. Sie hatten an Grabreihen Menschen positioniert – genau in dem Alter wie dem des Kriegstoten, der in diesem Grab liegt. Der Gefallene wurde damit als Mensch sichtbar und begreifbar. Das arbeitet bei den jungen Leuten. Biografiearbeit ist der passende Schlüssel, so gewinnt man die junge Generation für das Thema.
Wie bekommt man das in der Breite hin?
Bei der Bildungsarbeit müssen wir aufpassen, dass man sich nicht auf jene konzentriert, auf die sich sowieso alle konzentrieren, nämlich die Abiturienten. In den Vereinen sind alle irgendwie dabei. Das Fußballprojekt lässt sich im Grunde daher auch auf alle älteren Ver-eine umsetzen, bei denen Vereinskameraden in einem der Kriege gefallen sind. Die Biografiearbeit lässt sich auch auf die Feuerwehren übertragen. Es gibt weitere Projekte wie das Namensziegelprojekt, bei dem die Namen der Toten in Ton geritzt und dann eingebrannt werden. Aber wenn Schüler an dem Grab eines 18-jährigen Abiturienten dergleichen Schule die Rede des damaligen Schuldirektors von 1915 verlesen, der die Schüler damals aufgefordert hat, sich freiwillig zu melden, wirkt das bei den Schülern sehr nach.
Der Volksbund ist zwar für Kriegsgräberstätten im Ausland zuständig, Sie gestalten allerdings auch im Inland Kriegsgräberstätten zu Lernorten um.
Ja, wir beraten die Kommunen, helfen und versuchen beim Volkstrauertag präsent zu sein, aber für die Pflege bleiben die Kommunen in der Verantwortung. Wir sind für das Finden, Bergen, Einbetten von Kriegstoten im Ausland zuständig – das ist der Kern unserer Arbeit.