Die Magie des Abtauchens
„Lesen ist ein grenzenloses Abenteuer der Kindheit.“ Der schöne Ausspruch Astrid Lindgrens hat auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner Aktualität verloren. Lesen ist auch im Computerspielzeitalter noch ein grenzenloses Abenteuer der Kindheit. Eines, das besonders intensiv in den Ferien erlebt werden kann.
„Natürlich gilt das auch heute noch“, sagt Anika Lüdemann von der Bibliothek Waldmühle in Soltau. Nicht nur, weil man auch in einer Welt der Computer das Lesen benötige, etwa für Spielanleitungen oder Gebrauchsanweisungen. Vor allem aber habe das Lesen von Büchern einen einzigartigen Reiz als Trumpf: „Dass man sich beim Lesen die Bilder im Kopf selbst erschaffen kann und erschaffen muss.“
Der Zauber der Geschichten erschafft ein "Kino im Kopf"
Der Zauber der Geschichten, die den Leser in die Welt der Fantasie eintauchen lasse, erschaffe ein „Kino im Kopf“, so Lüdemann. Diese eigene Welt speise sich aus eigenen Erfahrungen und Begegnungen und sei auch der Hintergrund, vor dem so manche Buchverfilmung verblasse. Ein gutes Beispiel dafür sei die Figur Harry Potter. Als die erste Buchverfilmung in die Kinos kam, hatte der jungen Zauberer durch die bereits erschienenen vier Romanbände eine große Fangemeinde gewonnen. Und jeder Leser seinen eigenen Harry im Kopf. Auch für Lüdemann sah der Junge bis dahin ganz anders aus als der Schauspieler Daniel Radcliffe. „Durch die Verfilmung hat die Figur für mich ein bisschen von seinem Zauber verloren“, sagt die Bibliothekarin.
Doch es ist nicht nur die Magie des Abtauchens, das Lesen hat viele Argumente auf seiner Seite, die ebenso zahlreich wie unbestritten sind. Neben Fantasie und Kreativität werden vor allem auch der Wortschatz, der Sprachgebrauch und die Konzentrationsfähigkeit gestärkt sowie auch die Sozialkompetenz. „Kinder lernen aus Geschichten moralisches Verhalten“, sagt Lüdemann zum einen. Zum anderen untergrabe das Kommunikationsvermögen die Gewaltbereitschaft: Kinder mit einer sicheren Sprache versuchen, Konflikte mit Argumenten zu lösen und verfügen in der Regel über Selbstvertrauen und Selbstsicherheit.
Auf das Vorbild der Eltern kommt es an
Wie fast immer im Leben der Kinder kommt es auch beim Lesen auf das Vorbild der Eltern an. „Das fängt schon mit der Zeitung auf dem Frühstückstisch an“, sagt Lüdemann. Und gerade im Urlaub hätten ja auch die Eltern die Möglichkeit, mal selbst zu einem guten Buch zu greifen. Das spüren übrigens auch die Bibliotheken: „Wir merken das schon, dass sich ganze Familien mit Lektüre für ihr Ferienhaus eindecken.“ Das sei durchaus gewünscht und fast unbegrenzt möglich. „Ich glaube, ab dem 50. Buch gibt es eine erste Mengenwarnung“, sagt Lüdemann.
Klar ist, dass das Lesenlernen keineswegs die alleinige Aufgabe der Schule ist: In der Familie werde der Grundstein für die Leseentwicklung gelegt, eine ganz wichtige Basis für das spätere Lesen des Kindes sei das Vorlesen in der Familie. „Damit kann man bereits im Alter von neun Monaten beginnen, etwa mit Pappbilderbüchern.“ Das Buch sei nach wie das erste Medium im Leben eines Kindes und solle von Anfang an positiv besetzt werden.
Bei mehreren Kindern empfiehlt Lüdemann für den Urlaub ein Familienbuch, aus dem allen gemeinsam vorgelesen wird. Auch im Alltag nehme das Vorlesen vom Schlafengehen schnell die Funktion eines wichtigen Rituals ein. Natürlich sei es wünschenswert, die Geschichte mit toller Intonation und Mimik entsprechend zu begleiten. Doch das sei nun mal nicht jedermanns Sache. „Eltern sollten aber auch dann keine Hemmungen haben. Kinder freuen sich immer, wenn ihnen vorgelesen wird.“ Auch wenn der Vater nicht so beeindruckend lesen kann wie der Schauspieler vom Hörbuch.
Wenn die Begeisterung fürs Lesen erst einmal geweckt ist, sei das Kind auch bereit, die „Anstrengung“ eines dicken Wälzers auf sich zu nehmen, anstatt sich vorm Fernseher berieseln zu lassen. Lesen könne auch mal anstrengend sein. Aber je mehr man sich darin übe, um so mehr mache es Spaß. „Die Lesefähigkeit kommt vom Lesen“, sagt Lüdemann. Wenn Eltern ihrem Kind allerdings den Weg zum Buch nicht aufzeigen, werde es irgendwann den Reiz des Lesens nicht mehr erkennen, weil er scheinbar zu schwach ist. Dabei sei gerade die vermeintliche Reizarmut des Lesens seine Stärke: „Sie ist der große Vorteil des Buches“, sagt Lüdemann. „Mit keinem anderen Medium kann man so sehr in eine andere Welt eintauchen.“